Die Androiden von nebenan

Peter Stein zeigt Botho Strauß, der wieder Paare und Passanten beobachtet hat: „Die Ähnlichen“ an der Josefstadt uraufgeführt. Andere machen daraus Kabarett!  ■ Von Uwe Mattheiß

Auf diesen Moment hin hat das Theater in der Josefstadt die Saison über gespart. Der Kronleuchter in Max Reinhardts ehemaligem Haus sollte sich endlich wieder einmal für Vorkriegsware heben. Das Hofratswitwen/Abonnenten- Schwank-Theater, das sonst hier vorherrscht, ist vorzeitig in die Sommerpause expediert. Es sind Festwochen in Wien, da überlassen die Josefstädter ihr Etablissement gerne den Schiffbrüchigen von Salzburg zum ersten Landgang.

Kein Jahr ist es her, daß für Peter Stein bei den dortigen Festspielen der Lappen endgültig unten blieb. Die Ära seines Nachfolgers Ivan Nagel hält nicht einmal einen Sommer. Auch er: hinausgeekelt des Geldes wegen. Die Flucht von Reinhardt zu Reinhardt wird zum späten, zum unverhofften Triumph für Peter Stein. Auch für die Wiener Festwochen, das zweite, jüngere Hochglanzfestival im Land, mehrt dieser Umstand den Zusatznutzen. Mit seinem Autor Botho Strauß, der Uraufführung von „Die Ähnlichen“, bringt sich das Festival dann sicher in die Einflugschneisen des reichsdeutschen Feuilletons.

Seit sich unsere Großschriftsteller wieder in Kriegskulissen hineinimaginieren, bleibt nur der angehaltene Atem, auf daß der nächste Skandal nicht verpaßt werde. Das liberale Establishment sitzt auf rotem Plüsch, zückt die Bleistifte und lechzt nach einer neuen antiliberalen Attacke des Meisterdenkers, um sich neuerlich darüber zu beklagen, daß aus dem illiberalen Linken ein engherziger Rechter geworden ist. Was nicht wirklich einen Verlust bedeutet. Aber wenn Odysseus' starker Arm die moderierenden und gewaltvermeidenden Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zerschmettert, wenn er mit dem Feuer der Ahnen der entgötterten Gegenwart einheizt, bleibt wohliger Schauder und der innige Wunsch, den Kopf hinter einen SFOR-Schützenpanzer zu ducken.

Doch was wird heute gespielt? Der Zufallsgriff ins Programmbuch fördert „Die gantze Heilige Schrift: Deudsch“ und die Moorsche Familiensaga gleich auf ein und derselben Seite zutage. Das kann heiter werden. Will da einer mit Luther und Schiller Seit an Seit uns die verweichlichenden Flausen der welschen Zivilisation austreiben und zur originären deutschen Kultur bekehren? Gefehlt, die Frage, wie sich deutsches Denken nach vollendeter Reichseinheit zwischen die Zahlen 1871 und 1914 intervallschachteln läßt, wird in Wien vorerst nicht weiter verfolgt.

Mit „Die Ähnlichen“ macht Botho Strauß das, was er als Dramatiker am besten kann und in Jahrzehnten am besten konnte, bevor er historisch-politische Besinnungsaufsätze für den Spiegel verfaßte. Er beobachtet Paare dabei, wie sie einander etwas ins Ohr flüstern, und forscht nach ihren vagen Geschichten. Das neue Stück ist eine lockere Szenensammlung, feingliedrig, keine steingehauene Spracharchitektur. Strauß hört wieder hin, verdichtet Gehörtes und Erhörtes zu einem impressionistischen Gegenwartspanorama.

„Die Ähnlichen“ sind eine poetisch-ethnologische Studie über die urbanen Mittelschichten, soweit sich deren Individuen noch in heterosexuellen Paarbeziehungen konfigurieren. Er zeigt ihre Sprachcodes, Interaktionsmuster zwischen Männern und Frauen, ihre Selbstbilder, unreflektierte Bewußtseinsstände, ihre Lügen, ihre Therapien. Immer wieder Paare, die sich verfehlen, auch wenn sie sich treffen. Es sind Menschen, die kein Geheimnis mehr haben. Die Frauen sind ihm noch näher, aber das ist eine Präferenz der Steinschen Inszenierung.

Andere machen daraus Kabarett, über das dann eben jene neuen Mittelschichten herzlich lachen. Strauß beharrt dagegen auf Gesten der Verweigerung und wuchert mit dem Bildungskapital, das sein Zielpublikum längst verloren oder an einen eindimensionalen Existenzentwurf verpfändet hat. Er spannt die Abbilder aus seiner Gegenwart über den Horizont der Überlieferung und bemerkt schmerzlich, wie kurz sie geraten sind.

Im Hauptstück der Szenenreihung fechten zwei Brüder Christian/West (August Zirner) und Christoph/Ost (Daniel Friedrich) die geteilten Lebensauffassungen im vereinten Vaterland allegorisch aus, um sich dann für ein Bubenstück in Sachen Vereinigungskriminalität auf ein Packerl zu hauen. Deutsche Zwerge spekulieren steuersparend mit einem deutschen Vergnügungspark von „Ase bis Zwerg Nase“. Der neudeutsche Jedermann heiratet seine Buhlschaft (Dörte Lyssewski), die zuvor noch wegen Sozialabbaus beim Aufbau Ost ganz gewöhnlich anschaffen ging. Die verschmähte Exfrau wird ihm das Herz herausreißen. Morality play.

Wo keine Tradition verfügbar ist, tut der restaurative Intellektuelle sich eine backen. Die fragmentarische Stückform führen Strauß/ Stein auf zwei mittelalterliche Wurzeln jeden Theaters zurück: das geistliche Spiel, das dem Menschen seine Zeitlichkeit vorhielt, um ihn zu läutern, und die unterhaltsamen Zwischenspiele, die das theatralische Ereignis erst herstellen. Dramaturgenlatein versteigt sich ins Tautologische, ist doch jedes gute Stück in gewissem Sinn moralisches Zwischenspiel. Das soll die neugewonnene Lust an der Allegorie nicht mindern. Sie eröffnet wieder Gedankenräume jenseits des Realismus. Da werden aus drei Grazien im Hotelzimmer (Jutta Lampe, Mirjam Ploteny und Dörte Lyssewski) ansatzlos drei Macbeth-Hexen oder besser – Kopfnuß fürs hessische Abitur – die Grazien, die Mephisto im dritten Akt Faust II in eine häßliche Ausgeburt verwandeln.

„Die Ähnlichen“, da spielt der Berliner Polyhistor wenig sublim mit dem Wortwitz, lassen, was die Ahnen einst bewegte, nur noch erahnen. Er schaut, wie der kleine Gott der Welt im Wohlstand zwar, doch seinsvergessen vor sich hinvegetiert. Ästhetisches Empfinden, historisches Bewußtsein, die alles Bestehende in Frage stellende Imagination, am Ende nur noch Marginalien, die den Aspekt der Benutzerfreundlichkeit gänzlich außer acht lassen. „Daß eine technische Geistigkeit, sehr hochstehend, sehr sublim, alles ablösen wird, was der Mensch mit Würde als sein Dilemma durch die Jahrtausende schleppte.“ (Strauß, „Die Fehler des Kopisten“) Trauer? Wut? Die Warumfrage ist vergeblich. Zu Zeiten aber, als Adorno und Marcuse noch die Hausheiligen waren, galt immerhin die Frage, wie es dazu kam.

„Die Ähnlichen“ von Botho Strauß. Regie: Peter Stein. Mit Jutta Lampe, Dörte Lyssewski, Marianne Curn, Robert Hunger- Bühler, August Zirner u.a.