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Am Horizont ein Hähnchengrill

■ Der Schwaben-Imbiß ist ein Ort für Wunder und geheime Wünsche, und das theater 89 Aufführungsort für „Das Geheimnis von Stuttgart“

Die Versöhnung des Heiligen mit dem Profanen gelingt auf dem Theater selten. Meist gerät das Heilige profan und das Profane zum puren Gequatsche. Anders begibt es sich in „Das Geheimnis von Stuttgart“, dem 1994 uraufgeführten, ersten abendfüllenden Stück des Bochumer Dramaturgen Andreas Marber. Einem Geniestreich. In dem die Situierung des Geheimnisses in der Schwabenmetropole, mithin am aller unwahrscheinlichsten Ort, bereits auf das Besondere hinweist: die gelungene Kreuzung von apokalyptischer Vision und Trash.

Marbers Visionär heißt Mike Ferrari und kommt aus dem Osten. In die Traufe westlicher Arbeitslosigkeit, die ihn im Handumdrehen um sein bißchen Hab und Gut gebracht hat. Ein inkontinenter Jeremias, der sein Wasser so wenig halten kann wie die Worte. Ein Künder, der von den Schrecken der autofreien Gesellschaft zwanglos zur Kritik der Sprache nach Auschwitz kommt. Den der drohende Untergang aller schwäbischen Zivilisation mit biblischen Zungen begabt: „Was bleibt ist die Einsamkeit der Nacktheit und der Hunger... Ihr werdet die festgefrorenen Lebenden nicht von den festgefrorenen Toten unterscheiden können.“

Weil der Prophet naturgemäß nichts gilt im eigenen Land, stößt Mike Ferrari am Ort seines Wirkens und Wägens, dem Schwaben- Grill, auf pures Unverständnis. Hier, wo sich die Harmlosen und Selbstgerechten treffen, will keiner weiter schauen als bis zum Horizont, den Hähnchengrill, Grünpflanzen und Jukebox verstellen. Doch trügt der Schein. Denn der Schwaben-Grill ist ein Ort der heimlichen Wünsche. Wo Christian den Wirtsdienst versieht, ein Mann, dem alle Frauen augenblicks verfallen. Das Begehren, das er weckt, befriedigt Christian auf dem Klo. Bloß daß Christian gar kein Mann ist, sondern die Schlagersängerin Chris Doerk, einstmals Hauptdarstellerin des DDR- Kultfilms „Heißer Sommer“ und Ehegespons von Frank Schöbel.

Weil der Schwaben-Grill ein Ort der Wunder ist, an dem zerschnittene Telefonleitungen durch Knoten repariert werden, das Arschloch Bernd, ein Krimiautor, sich selbst als Arschloch erkennt und die entführte Braut Irmgard auf dem Klo mit Chris der selbstgewählten vorehelichen Enthaltsamkeit entsagt, um sodann einen Mordversuch am allzu kläglich-alltäglichen Verlobten Thomas zu unternehmen – weil also in der Kneipe das Wunder geschieht als Erkenntnis des Selbst und der eigenen Sehnsucht, ist auch der Unterschied zwischen Männern und Frauen suspendiert: „Keine Frau mit der ich geschlafen habe hat irgendetwas an mir vermißt.“ Solange wenigstens, bis Ferrari, der schwarze Prophet, der immer schon den anderen im Wirt geahnt hatte, das Inkognito der innig verehrten Chris endlich gelüftet hat.

Marber erklärt nicht, er setzt. Das Geheimnis steckt zwischen den Zeilen, in den Weißräumen, wo das Unerklärliche seine Figuren aus der gewohnten Wirklichkeit ver-rückt. Wobei Marber Glaubwürdigkeit gewinnt, indem er das Geheimnis im Zentrum durch Banalität an den Rändern erdet. Er läßt drei neofaschistische Bundeswehrsoldaten auftreten und den „Kor der Freunde“ das Einheitscredo singen: „Ich glaube worum es nicht mehr geht ist die Verbesserung des Lebens. Worum es geht ist die Verbesserung der Einkaufsmöglichkeiten.“

Das Stück ist nicht leicht zu spielen. Es bedarf außergewöhnlicher Schauspieler und eines schlagenden Konzeptes, um die Geheimnisse des Textes mit Bildern und Aktion zu bergen. Eine Aufgabe, an der Rudolf Koloc im theater 89 gescheitert ist. Ganz auf Klamauk fixiert und durch schwach begabte Schauspieler behindert, verfehlt Koloc das mögliche Vexierbild der zerschredderten Gegenwartsgesellschaft. Aus der schieren Nichtigkeit ragt allein Herbert Sands kongeniale Darstellung des Mike Ferrari hervor. Man hätte ihm inspirierte Mitspieler und einen zu Ernsthaftigkeit geneigten Regisseur gewünscht. Nikolaus Merck

Bis 20.6., Mi.–Sa., 20 Uhr, theater 89, Wilhelm-Pieck-Str. 216

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