Mein Gott, Thomas Helmer träumt!

„Nur Führungsspieler verstanden“: Eben war der Kapitän des FC Bayern noch der deutsche Vorzeigeprofi der 90er Jahre. Nun droht Thomas Helmer die Streichung aus dem kollektiven Fußballgedächtnis  ■ Aus St. Paul de Vence Peter Unfried

Wenn man an den Fußballer Thomas Helmer denkt, dann fällt einem sofort ein... Tja... Was eigentlich? Welches Tor, welche unvergeßliche Szene verbindet sich auf ewig mit seiner Person? Keine Spielszene. Wenn überhaupt, dann jene, in der er in Wembley vom Feld humpelte, beide Knie bandagiert. Das war zunächst nach dem EM-Halbfinale 1996, dann auch nach dem Finale und wurde gedeutet als Metapher eines deutschen Siegers. Humpeln okay – verlieren niemals. Der Bundeskanzler persönlich nannte der Gesellschaft den Fußballer Helmer als nachahmenswertes Beispiel deutscher Tugend in schwierigen Zeiten.

Verletzt, spielt nicht: Helmer ist Geschichte

Was aber ist das zwei Sommer später noch wert, nachdem sich so viel geändert hat, daß selbst die Worte Kohl und Kanzler nicht mehr so einfach als Synonyme zu gebrauchen sind? Ehrlich gesagt: nichts. Thomas Helmer, so scheint es, ist Geschichte. Und zwar eine, die die im DFB-Troß arbeitenden Medien Anfang der Woche zügig erledigt haben. Verletzt, spielt nicht, Ende.

Helmer ist nicht irgendwer. Er bestritt 66 DFB-Spiele, ist Spielführer bei Bayern München und war eben noch einer der richtig wichtigen deutschen Fußballprofis der 90er Jahre. Matthäus' und Völlers Zeit endete eigentlich mit dem WM-Titel 1990, danach kam ein Loch, und dann Klinsmann, Sammer – und Helmer? Der Mann gehört zu jenen, die kapiert haben, wie das Spiel in seinem jetzigen Zustand funktioniert. Defensiv. Gegen Instinkt und Emotion hat er Verstand und Vernunft gesetzt. Er beherrscht den Raum besser als den Ball. Trainer lieben so einen Mann. Das Publikum weniger, weil sein Wirken nicht über einzelne Auftritte zu rezipieren ist. Außerdem fühlt es sich nach nichts an.

Sein Aufstieg dauerte daher ziemlich lange, war aber stetig. Jetzt ist er 33 und müßte eigentlich ganz oben sitzen. Jetzt sitzt Helmer aber in Nizza in einer Turnhalle auf dem Podium – und soll eine Frage sein Absinken in der teaminternen Hierarchie betreffend beantworten. Er hat aber von der Frage, das sagt er mit einem Lächeln, „nur das Wort Führungsspieler verstanden“. Diese bewährte Kombination aus Mimik und Rhetorik trägt ihm regelmäßig den Vorwurf ein, er sei „arrogant“ und noch schlimmer: „sarkastisch“. Dabei kriegt er bloß einen graden Satz raus – ist das wieder nicht recht?

Das System Profifußball fordert seine Opfer

Die Sache ist ziemlich einfach. Das System Profifußball namens Vielspielen = Vielverdienen fordert seine Opfer. Eines heißt Sammer, ein anderes nun Helmer. Der, seit 14 Jahren Berufsfußballer, holte sich in dieser Saison eine Verletzung nach der anderen: Adduktoren, Rippen, chronischer Schaden am Innenband, Muskelfaserriß, Außenband fast abgerissen, noch ein Muskelfaserriß im vorderen Oberschenkel, den Anfang der Woche Beschwerden im selben Körperteil, nur auf der Rückseite, ablösten. Führungsspieler? „Ohne Gesundheit und Fitneß ist es nicht einfach“, sagt Helmer. Seit seiner Dreiminutenrede von Göteborg 1995 gehörte das Attribut „Führungsspieler“ auf Klub-, seit England 1996 auch auf DFB-Ebene zu ihm. Vor einigen Wochen wurde es ihm im Zusammenspiel zwischen Kapitän Klinsmann und den Medien wieder entzogen. Wer verletzt ist, ist schwach. Man schiebt ihn an den Rand.

Thomas Helmer, Sohn eines Malermeisters und einer Hausfrau, stammt aus Herford, hat Abitur gemacht. Er scheint nicht immer hyperzielstrebig gewesen zu sein. Dennoch hat es gereicht, daß er sich, soweit man so etwas sagen kann, keine Sorgen machen muß. Ums Geld nicht, aber auch nicht um eine Weiterexistenz in der Branche, sei es beim Verband, in der Bundesliga – oder mit seiner „Betreuungsgesellschaft für Bundesligaprofis“ (Heinze & Partner). Bevor es soweit ist, kann er mit den Bayern die eine oder andere, natürlich aufregende Saison erleben.

Aber jetzt ist WM, und da hockt er unrasiert in Nizza und plagt sich Tag für Tag mit dem „Psychotherapeuten“ und hört in seinen Körper. Gestern hat er zum ersten Mal wieder versucht, mit der Mannschaft zu trainieren.

Warum neigt einer wie er zum Heldentum?

Das Jahr war hart, er häufig mies gelaunt, und dann hat zuletzt auch noch der Kolumnist Beckenbauer ihm vorgehalten, er habe wegen der WM den Klub vernachlässigt. Das tut weh, das muß weh tun, mal wieder wird Helmer unrecht getan. Und das sagt er auch ganz deutlich. Er sagt nämlich, Beckenbauers Mutmaßung sei „ein Vorwurf, den man mir nicht machen kann“. Daß ausgerechnet er sich nicht für den Klub einsetze, sei „ridiculous, wie die Engländer sagen“.

Dann erzählt er von seiner Saison, wie er immer wieder gespielt hat, obwohl er nicht fit war, weil Bayern-Trainer Trapattoni ihn bat. Das ist ein Punkt, an dem die Geschichte vom rationalen Fußballprofi Helmer nicht richtig aufzugehen scheint. Warum neigt einer, der jede Bewegung auf und neben dem Spielfeld offenbar kalkuliert, in diesem Punkt zu antiquiertem, irrationalem, letztendlich gesundheits- und damit geschäftsschädigendem Heldentum?

„Mannschaftskapitän und so“, sagt er dazu eher beiläufig, und daß er bei Bayern „auch noch mit einem halben Bein gebraucht“ werde. Man muß immer genau hinhören. Helmer spricht so leise, daß man die Stärke einer Aussage leicht mal verpassen kann.

Will er sagen, daß es im DFB- Team auch so ist? Vermutlich ja. Er muß sich nur wieder auf seinen Körper verlassen können. Wird er rechtzeitig fit, hofft er, werde sich der Rest zwangsläufig ergeben. Berti Vogts hat mehrmals signalisiert, er werde auf ihn warten, über das USA-Spiel, womöglich über die Vorrunde hinaus. Denn Helmer ist der Mann, der kann, was wenige können: die unsichtbaren Fäden zusammenhalten. Das Problem ist nur: Sitzt er draußen, merkt man zwar, daß etwas fehlt – kommt aber nicht zwangsläufig drauf, daß es Helmer ist.

Man vergißt ihn – womöglich ganz. Kollektive Erinnerung funktioniert noch immer hauptsächlich über Weltmeisterschaften. Helmer hat 1990 knapp den Kader verpaßt, 1994 war er im vierten Spiel in der Stammformation, im fünften war Schluß. Wenn man ihn fragt, ob er nun in seinem Einzelzimmer im Hotel Mas d'Artigny nachts schweißgebadet aufschreckt, grinst er und antwortet, er habe „heute morgen einen Schlag gekriegt“, weil das Telefon klingelte und er dachte, er habe „verpennt“.

Wembley hat ihn identifizierbar gemacht

Zählt man jene Fußballer auf, die erinnert werden, und setzt probehalber seinen Namen dazu, weist er auf seinen Status als Abwehrspieler hin. Dann sagt er: „Da muß man halt ein Golden Goal schießen.“ Im WM-Finale. Das sei „doch klar“. Und da es die Regel noch gäbe, sei folglich „noch alles möglich“. Er lacht, offenbar amüsiert er sich köstlich.

Womöglich hat im Wembley deshalb so gut gefallen, weil es sein Golden Goal war, weil es ihn für einmal identifizierbar gemacht hat. Erinnerbar. Thomas Helmer? Der Mann, der sich für andere aufopfert! Deshalb ärgert ihn auch Beckenbauers Klage so.

„Mein Gott“, sagt Helmer nun, „da träumt jeder davon.“ Er ist noch beim Golden Goal. Im Endeffekt, wie er zu sagen beliebt, hat er zwar schon zu Ende gedacht, wie er damit umgeht, „wenn das hier ganz blöd läuft.“ Daß man dennoch Träume oder Sehnsüchte habe, sei „doch normal“. Die habe er „auf jeden Fall auch“.

Hätten Sie's gedacht? Thomas Helmer träumt.