: Kein Brot, aber die Bombe
In Indien bestimmen die Atomtests die innenpolitische Diskussion. Die Regierung hoffte auf einen Atom-Bonus, doch der Schuß geht nach hinten los ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly
Kaum hatte Premierminister A.B. Vajpayee am 11. Mai die Durchführung von drei Atomtests verkündet, wurde an den Zeitungsständen Delhis die neueste Ausgabe des Wochenblatts The Organiser abgeliefert. Das Titelbild zierte ein Atompilz. Das Blatt sprach zwar noch nicht vom drei Stunden zuvor erfolgten Atomtest, aber die Botschaft war eindeutig: Die neue Regierung der hinduistisch nationalistischen BJP wird ihr Versprechen eines Atomtests einlösen. „Die nukleare Option“, lautete eine Überschrift und gleich daneben: „Es ist Zeit, Pakistan zu zähmen.“
Waren die Blattmacher in das hochgeheime Projekt eingeweiht, von dem außer den direkt beteiligten Wissenschaftlern nur Premierminister Vajpayee und vier seiner engsten Parteikollegen Kenntnis hatten? Sie alle sind Mitglieder der Nationalen Freiwilligenorganisation (RSS), dem ideologischen Zentrum der nationalistischen Hindubewegung. Und der Organiser ist das offizielle Sprachrohr des RSS.
Der seltsame Zufall ging in der allgemeinen Euphorie über den Atomknall zunächst unter. Erst allmählich wurde sich die Öffentlichkeit darüber bewußt, daß die BJP der politische Arm der „Familie“ ist, als die sich die vielen Organisationen unter der unsichtbaren, aber straffen Führung des RSS verstehen. Während der BJP als Vorsteherin einer Regierungskoalition die Hände gebunden sind, haben andere Familienmitglieder nun begonnen, die Bombe politisch auszuschlachten. Für sie ist die Bombe die Waffe der Götter Ram und Krishna, BJP-Lokalsektionen fordern, Staub aus dem Testgebiet in einer rituellen Geste über das ganze Land auszustreuen, und der Welt-Hindu-Rat (VHP) würde gerne auf dem Gelände einen Tempel bauen.
Die Verzierung der Bombe mit religiösen Symbolen zeigt, daß der RSS den Hinduismus gern als ethnisch-rassisches Unterscheidungsmerkmal gegenüber den „anderen“ instrumentalisiert, seien es nun Muslime, Christen oder Ausländer. Die Feindbilder, allen voran jenes der Muslime, sollen die Identität einer starken Nation konsolidieren. Im Atomtest an der Grenze zum Feind Pakistan fand der RSS ein neues identitätsstiftendes Symbol, das die Zurückweisung des „anderen“ mit dem Stolz auf die eigene technische Leistung verbindet. „Die Bombe ist Ausdruck von nationaler Selbstachtung, der Identität der Hindus. Der indische Nationalismus hat nun seinen Ausdruck gefunden“, sagt RSS-Generalsekretär H.V. Seshadri. Sie ist aber auch Symbol der aggressiven Herausforderung des Feinds – der ungerechten Weltöffentlichkeit, des muslimischen Pakistans und schließlich der „Peaceniks“ im eigenen Land.
Eine Ideologie, die von der inklusiven Weltschau Mahatma Gandhis weit entfernt ist. „Von der Welt erfuhren wir nur Ungerechtigkeit, Demütigung und Angriffe. Das werden wir nicht mehr tolerieren. Die Welt versteht nur diese Sprache. Wir redeten immer von Zusammenarbeit und Liebe. Doch wir haben unsere Lektion gelernt. Von nun an kümmern wir uns nicht mehr um die Reaktionen der Welt“, sagt Seshadri. Der zweite Gegner, der islamische Nachbar Pakistan, sei für die Amputierung von „Mutter Indien“ verantwortlich, erinnerte Innenminister L.K. Advani Islamabad nur wenige Tage nach dem Atomtest an eine alte Parlamentsresolution, wonach auch das von Pakistan besetzte Kaschmir ein Bestandteil Indiens sei. Und er deutete an, daß seine Regierung den Konflikt durchaus in diesen Teil tragen könne, um Pakistan zu stoppen.
Zum dritten Gegner wird nun auch die wachsende Antiatombewegung, die als Landesverräter gebrandmarkt werden. Dies wurde in der Nukleardebatte des Parlaments sichtbar. Die Opposition hatte sich nach dem 11. Mai – angesichts der momentanen Popularität der Tests – vorsichtshalber auf die Seite der Regierung geschlagen. In der Debatte stellte sie mit ihren bohrenden Fragen die demokratische Vielfalt des Landes wieder her, die in der flächendeckenden Euphorie verschwunden war: Wie kam es plötzlich zu einer Krise in der regionalen Sicherheit? Warum wurden nach den Tests zwei so wichtige Länder wie die USA und China unnötig vor den Kopf gestoßen? Was meint die Regierung zur peinlichen Verherrlichung einer Massenzerstörungswaffe? In seiner Antwort stellte Advani kurzerhand den Patriotismus der Opposition in Frage und nahm ihn für seine Partei in Anspruch. BJP-Abgeordnete rieten dem Kommunisten Somnath Chatterjee, er solle doch nach Pakistan auswandern. Als sein Parteikollege Gupta angesichts mangelnder Mittel für sauberes Wasser und Elektrizität die Frage nach den Kosten stellte, wurde dies als „Witz“ abqualifiziert.
Nicht nur in den Oppositionsparteien, auch in der weiteren Öffentlichkeit werden zunehmend Proteststimmen vernehmbar. Wissenschaftler verwahren sich gegen die Unterstellung, daß alle Universitäten die Entwicklung von Atombomben als nationale Pflicht ansehen; die Zeitungen, bisher stramm auf Regierungslinie, beginnen sich allmählich mit den Kosten des Ereignisses auseinanderzusetzen. In den letzten Wochen kam es beinahe täglich zu kleineren Demonstrationen, in denen die Spitzenleistungen einer Atomexplosion ironisch mit der Unfähigkeit der Regierung verglichen werden, den Bürgern die grundlegenden Dienstleistungen zu garantieren: „Kein Brot, keine Elektrizität, keine Jobs – kein Problem: Wir haben ja die Bombe“, hieß es auf einem Plakat. Gerade die täglichen Stromausfälle in der Hauptstadt lassen den politischen Gewinn der Bombe für die BJP rasch dahinschmelzen. Viele der Bürger, die auf die Straßen gehen, sind BJP- Wähler.
Premierminister Vajpayee hat inzwischen erkennen müssen, daß bei einer parteipolitischen Monopolisierung der Bombe der Schuß nach hinten losgehen könnte. Bei den Nachwahlen in die Regionalparlamente zeigte sich, daß die BJP über keinen Atom-Bonus beim Wähler verfügt. Sie konnte ihre Sitzzahl nur knapp halten.
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