: Kein Justizskandal um Aladin M.
■ Interview mit Richter Kellermann, warum er den mutmaßlichen Geiselnehmer freiließ
Zwei Männer fahren von Bremen in die Niederlande. Sie wollen für 64.000 Mark Kokain kaufen. Trotz Zahlung liefert der Drogendealer nicht. Zurück in Bremen, nimmt einer der Männer den Bruder des Drogenhändlers als Geisel und droht, ihn zu erschießen, wenn er das Geld nicht zurückbekommt. Die Anklageschrift gegen Aladin M. zeichnet das Bild eines skrupellosen Gangsters. Trotzdem wurde der Mann aus der Untersuchungshaft entlassen, weil das Landgericht keine Fluchtgefahr feststellen konnte. Justizskandal, schimpft die Kripo. Die Staatsanwalt legt Beschwerde ein. „Es ist nicht zu fassen“, zitiert der Weser Kurier seine aufgeregten Leser. Ob das Landgericht tatsächlich leichtfertig „schwere Jungs“ auf freien Fuß setzt, wollten wir von Helmut Kellermann wissen. Er ist Strafrichter und Pressesprecher am Landgericht.
Herr Kellermann, die Kripo fängt Straftäter und die Justiz läßt sie wieder laufen. Das ist jedenfalls der Vorwurf, der dem Landgericht im Fall Aladin M. gemacht wird. Was sagen Sie dazu?
Von einem Justizskandal kann keine Rede sein. Hier hat eine Kammer des Landgerichts entschieden, daß der Mann aus der Haft entlassen wird.
Aber Herr M. soll eine Geisel genommen haben.
Die Frage, ob jemand ein Geiselnehmer ist oder nicht, ist für uns nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob Haftgründe vorliegen. Die Kammer hat hier festgestellt, daß die Geiselnahme unter besonderen Umständen erfolgt sein soll. Fluchtgefahr ist zum Beispiel ein Haftgrund. Diese Geiselnahme ist dazu aber nicht geeignet.
Warum sieht die Kammer keine Fluchtgefahr? Der Mann ist Ausländer und könnte sich absetzen.
Der Mann ist früher einmal verurteilt worden, und zwar Ende der 80er Jahre. Er ist 1990 letztmalig in Strafhaft gewesen. Seit dieser Zeit war er immer in Bremen. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Die Kinder sind noch sehr jung, eines ist schwer behindert. 1996 wurde der Mann abgeschoben. Damals waren mehrere Strafverfahren offen. Trotzdem kam er 1997 wieder nach Bremen, weil er zu seiner Familie wollte. Schon 1996 wollte er nicht ohne seine Frau und die Kinder abgeschoben werden. Das zeigt, daß er einen starken Hang zu seiner Familie hat. Und das ist bei der Entscheidung, ob eine Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, zu berücksichtigen.
Der Mann könnte doch untertauchen und trotzdem Kontakt zu seiner Familie halten.
Das kann man natürlich nicht ausschließen. Das ist eine Ermessensfrage, die immer Zweifel birgt. Die Kammer ist aber zu der Auffassung gelangt, daß einer Fluchtgefahr auch durch andere Maßnahmen begegnet werden kann. Der Angeschuldigte muß sich jetzt zum Beispiel einmal die Woche beim Polizeirevier melden. Sollte er das nicht tun, kann er wieder verhaftet werden.
Die Kripo sagt, Aladin M. sei ein knallharter Drogendealer, der wegen hinter Gittern gehört, weil er gefährlich ist.
Es gibt keinen rechtskräftig festgestellten Beweis dafür, daß es sich bei diesem Mann um einen knallharten Drogendealer handelt. Die letzte Verurteilung stammt aus dem Jahr 1989. Ob der Mann im Februar tatsächlich mit Drogen gehandelt hat, ist offen. Die Kammer des Landgerichtes hat hier jedenfalls keinen dringenden Tatverdacht festgestellt. Bei der Geiselnahme ist der dringende Tatverdacht nach Meinung der Kammer allerdings gegeben. Dafür kommt eine Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren in Betracht. Bei einem minder schweren Fall wird eine Strafe nicht unter einem Jahr verhängt. Die Untersuchungshaft dient aber nicht dazu, die Strafe, die erst später verkündet wird, vorwegzunehmen. Es kann also nicht darum gehen, die Untersuchungshaft aufrechtzuerhalten, weil der Mann ein Geiselnehmer ist. Außerdem war auch nie die Rede davon, daß hier eine Wiederholungsgefahr gegeben ist. Das wäre ein weiterer Haftgrund gewesen.
Daß die Kripo nicht immer mit den Entscheidungen des Gerichts einverstanden ist, kommt vor. Daß die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegt, ist auch nichts ungewöhnliches. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum dieser Fall so hohe Wogen schlägt?
Die Kripo, das heißt einige Beamte, schätzen diesen Mann als „gefährlich“ und „hochkriminell“ ein. Das ist deren Einschätzung. Aus rechtskräftigen Urteilen, die gegen den Mann ergangen sind, läßt sich das aber so nicht entnehmen.
Fragen: Kerstin Schneider
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