piwik no script img

■ SchlaglochAusblick auf den Turbofeudalismus Von Mathias Greffrath

Wir haben in Deutschland ja geradezu einen Horror davor, uns einen Koffer tragen zu lassen. (Meinhard Miegel, Vorsitzender der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission)

Täglich sitzt man mindestens einmal drauf, Frau öfter. Aber wer hat sich je Gedanken gemacht, wie kompliziert eine Kloschüssel herzustellen ist? Immer noch. Wie leicht die Dinger zerbrechen, wenn sie aus dem Ofen kommen. Wie schwierig es ist, das Keramikpulver mit richtiger Intensität in die Form zu pressen, nicht überall mit derselben, damit sich der Brennkörper nicht verzieht, was zu Rissen und frühem Verschleiß führt.

Das ist typisches Erfahrungswissen. Meisterwissen. Fingerspitzengefühl – schließlich ist nicht jede Charge Pulver gleich körnig –, das in Jahren entsteht. Wissen dieser Art macht Arbeiter und Ingenieure wertvoll. Sie fühlen, was kein Instrument mißt, sie verbessern den Ablauf unmerklich – schon um sich Arbeit zu sparen. Vorbei, vorbei. Kürzlich erklärte mir ein freundlicher Ingenieur vom Fraunhofer-Institut für Werkzeugmechanik ein Softwareprogramm, das die optimale Verteilung des Keramikpulvers beim Sintern charakterisiert, die Schrumpfprozesse im Brennofen simuliert, dergestalt den Brennmeister, ein immer noch mit „alchimistischen“ Resten behaftetes Metier, automatisiert. Super-High-Tech, im Dienste einer der ältesten und bis heute nicht ganz wägbaren Techniken.

An den Terminals der Automatisierer wandert die Erfahrung ganzer Berufe ins Digitale: Das Wissen über Töne, Oberflächen, Raumwinkel und Volumina verschwindet in einem Programm, das die akustische Erfahrung von Generationen konzentriert und den Bau von Konzertsälen zum Kinderspiel macht. Die Raumphantasie von Architekten wird weniger gefordert, wenn sie ihre Skizzen im dreidimensionalen Video betreten können. Und mit diagnostischen Expertensystemen wird der Arzt zum Knopfdrücker. Was bislang Fingergefühl, Erfahrung, Meisterschaft einzelner erforderte, wird zum verkopften Kinderspiel – wenn man die Geräte hat.

Der Vorgang ist dialektisch vertrackt. Er verbreitet exklusive Fähigkeiten und schafft höhere Routine ab. Im Mainstream der ökonomischen Publizistik heißt das: Kapital und Wissen werden wichtiger als Arbeit. Aber der Satz kaschiert den wahren Sachverhalt: Jeder regt sich auf, wenn Gene patentiert werden. Stopp, rufen die Kulturkritiker, hier wird Natur privatisiert! Wenn Bill Gates die digitale Verwertung von Nationalgalerien und Fotoarchiven weltweit monopolisiert, stöhnt das Feuilleton: Hier wird Gattungsbesitz usurpiert. Aber wenn das Menschheitserbe des Produktionswissens privatisiert wird, gilt das als normaler technischer Fortschritt. Dabei ist das eine Enteignung, ebenso groß wie die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ zu Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus: die Privatisierung der Allmende, des Waldes, der Weide, der Wege, die doch allen gehörten. Auch jetzt werden Zäune gezogen um den Gemeinbesitz, diesmal unsichtbare, Copyright-Zäune.

So frißt die dritte technische Revolution die Kinder der ersten beiden. Und damit das – bescheidene – Maß an Gleichheit. Die Stärke der Arbeitenden, so Diderot, Hegel und Marx, verdankte sich der Überlegenheit der Knechte über die Herrn: Der Herr besitzt und genießt, die Knechte dienen und können die Werkzeuge bedienen. Sie sind die Herren der Materie, ohne ihre „personengebundene Kompetenz“ läuft nichts, das macht sie über kurz oder lang zu den Herren. Die Arbeitsteilung, sagt die bürgerliche Soziologie, ist das Unterpfand der Demokratie. „Alle Räder stehen still...“ – das war der Wink: Ihr könnt nicht ohne uns. Jetzt aber können die Eigentümer immer eher ohne die Nichteigentümer – dank deren Vorarbeit.

Das prägt das depressive Lebensgefühl nicht nur der Handarbeiter, sondern auch der Sachbearbeiter, Ingenieure, Ärztinnen, Gestalter. Immer mehr werden ersetzbar, relativ gesehen wird die Zahl der Menschen mit exklusiven Fähigkeiten weiter sinken. Wo Technik involviert ist, wird sie nach dem Gesetz der großen Serie ausgenutzt. Die fallende Lohnquote, die schwachen Gewerkschaften spiegeln den Machtverlust der qualifiziert Arbeitenden. Sie rutschen ab, durch die Neue Mitte nach unten.

Nicht nur in der Analyse der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission, auch in den Erwägungen des Club of Rome, den hilflosen sozialdemokratischen Strategien, vor allem aber nach dem Willen aller, die noch einen Job mit Überstundengarantie haben, gibt es keinen Ausweg, als die „Überflüssigen“ absteigen zu lassen. Ganz unten führt der Verdrängungswettbewerb dann zu neuen Mägden und Knechten. Nur diesmal zu Knechten, von denen keiner mehr abhängt. Sie sollen Tüten an Aldi-Kassen füllen, Koffer tragen und Schuhe putzen – keine Rede von Dieter Hundt, kein Mittelstandskongreß, auf dem solche Phrasen nicht gedroschen werden. Sie sollen im Haushalt derer dienen, deren Arbeitszeit für Kinderärsche und Greisengaumen zu kostbar ist, oder die soziale Arbeit tun, die für den normalen öffentlichen Dienst zu teuer ist.

Zur Begründung dieser neuen Klassenspaltung wird gesagt: Rund 20 Prozent der Menschen sind unterqualifiziert für unsere Welt. Aber die Zahl ist statisch gegriffen, nicht wissenschaftlich belegt. Es ist wie im Streit um Lernen und Begabung: Solange die Bildungspolitik nicht versucht, auf die Dequalifizierung fast aller mit einer allgemeinen Hebung des Bildungsniveaus zu reagieren, um den Marktdruck auf die qualifizierten, sicheren Arbeitsplätze zu erhöhen, sind all diese Linderungsprogramme und Dritten Sektoren wenig mehr als die staatlich moderierte Produktion von Elend. Denn Elend ist die überflüssige Kluft zwischen Oben und Unten, Raffiniert und Grob, Drinnen und Draußen.

Die Tendenz aber geht eher in die andere Richtung, zum Abbau öffentlicher Bildung. So fordert die „Runde Tafel“ des europäischen Big Business – die wohl mächtigste großindustrielle Lobbygruppe in der EU – die computergestützte Kommerzialisierung der berufsbezogenen Bildung. Jeder kauft sich dann sein Humankapital gleich bei denen, die es hinterher verwerten wollen. Dem Staat bliebe der Rest: den Ausgeschlossenen „basic skills“ beizubringen und einen Platz außerhalb des produktiven Kerns zuzuweisen. Das wäre das Ende von Gesellschaft – deren Begriff nicht abzutrennen ist vom Versprechen der Chancengleichheit – und der Anfang einer Art Turbofeudalismus, der in den Allüren der neuen Herrchen allenthalben schon aufscheint.

Die Fossilien des sozialdemokratischen Zeitalters aber, die Schuhputzautomaten und die Gepäckkulis, diese schönen egalitären Geräte, werden im Museum verschwinden, wenn Knecht und Magd, mit neuen Berufsbezeichnungen, wieder die Bühne betreten: Die Rasen der Inhaber von „core jobs“ mähen, den High- Tech-Baukolonnen hinterherputzen und die Software-Entwickler davon entlasten, ihre Kinder selbst aufs Klo zu setzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen