: EU vertagt die Bürgernähe
Gipfel in Cardiff endet mit Allgemeinplätzen über die Transparenz der EU. Das Treffen war bestimmt von Themenmangel und deutschem Wahlkampfgeklingel ■ Aus Cardiff Alois Berger
Der britische Protokollchef hatte mitgedacht und für den deutschen Bundeskanzler einen riesigen alten Bentley reserviert. Und Helmut Kohl genoß es, daß er sich nach dem Abendessen mit der Queen endlich einmal nicht in den üblichen Daimler quetschen mußte. Huldvoll winkend ließ er sich auf dem Weg vom Schloß in sein Hotel an neugierigen Bürgern vorbeichauffieren. Wehmut befiel einige EU-Korrespondenten bei diesem vielleicht letzten EU-Auftritt Kohls.
Doch Helmut Kohl hat noch lange nicht aufgegeben. Nicht die Innenpolitik sei es, hat er Journalisten bei einem der letzten EU-Gipfel einmal anvertraut, er müsse noch einmal Kanzler werden, um sein europäisches Werk zu vollenden. Doch die Währungsunion ist auf dem Weg, die Osterweiterung beschlossene Sache, der Amsterdamer Vertrag vor der Ratifizierung in allen Mitgliedsländern.
Das einzige, was Kohl auf dem EU-Gipfel in Cardiff deshalb noch einfiel, war, daß die Europäische Union jetzt den Bürgern draußen auf den Straßen nähergebracht werden müsse. Natürlich hätte es auch andere Themen gegeben, die überfällige Reform der Agrarpolitik zum Beispiel oder die Neuordnung der Finanzen nach dem Jahr 2000. Aber die Regierungschefs haben sich längst damit abgefunden, daß brennende Fragen keine Chance auf eine Lösung haben, wenn in einem der großen EU- Länder gerade Wahlkampf ist. Da fehlt dann die nötige Kompromißbereitschaft – oder es wird gar, wie im deutschen Fall, mit lautstarken Drohungen der Zahlungsverweigerung beklagt, daß manche mehr zum EU-Haushalt beitragen als andere.
So setzte Kohl in Cardiff durch, daß die Forderung nach einer „fairen Lastenteilung“ in das Abschlußdokument aufgenommen wurde. Das heißt eigentlich gar nichts, aber der Kanzler kann's brauchen.
Und weil nun nichts ging, redeten die Regierungschefs über Bürgernähe, begrüßten ausdrücklich, daß die EU-Kommission ihre Informationen neuerdings auch übers Internet verbreitet, und hielten sich vor allem beim neuen Modewort Subsidiarität auf. Das besagt, daß die EU sich nur um Dinge kümmern soll, die von den nationalen Regierungen nicht mehr ausreichend gelöst werden können.
„Die Mitgliedsstaaten und alle Institutionen müssen nachhaltige Anstrengungen unternehmen“, heißt es im Abschlußdokument, „um die Union offener, leichter verständlich und für das alltägliche Leben relevanter werden zu lassen.“ Zehn Regierungen hätten das gerne etwas genauer formuliert – die fünf anderen Länder nicht, könnten sie sich dann doch nicht mehr so leicht hinter EU- Verordnungen verstecken, die sie selbst mitbeschlossen haben.
Da offener Streit mit EU-Partnern das letzte ist, was Kohl derzeit brauchen kann, wurde die Diskussion auf Oktober vertagt. Dann soll unter österreichischer Präsidentschaft ein Sondergipfel dazu einberufen werden. Regierungschefs nehmen Rücksicht aufeinander. Der österreichische Kanzler Viktor Klima spricht allerdings lieber von einem informellen Treffen als von einem Sondergipfel. Er möchte seine EU-Präsidentschaft nicht von vornherein mit einem absehbaren Mißerfolg belasten.
Denn wenn es um die Details geht, läßt die Begeisterung für die Bürgernähe bei allen schnell wieder nach. Protokolle von wichtigen Entscheidungen im Brüsseler Ministerrat beispielsweise müssen immer noch regelmäßig über den Europäischen Gerichtshof eingeklagt werden. Freiwillig rücken die Regierungen das selten heraus. Dabei wäre es für die Bürger schon interessant zu erfahren, wie der deutsche Landwirtschaftsminister denn für die deutschen Bauern kämpft.
Doch Bundeskanzler Kohl hatte die Forderung nach Bürgernähe in Cardiff so gestellt, daß bei den anderen gar nicht erst der Verdacht aufkam, er wolle an den Kern des Problems heran. Denn wenn irgend jemand Europa verstehen soll, müßte erst einmal die seltsame Machtverteilung zwischen Ministerrat, Europaparlament und EU-Kommission durchsichtiger gestaltet werden. Kohl machte nicht den Eindruck, als ob er den Bürger so nah im Nacken haben wollte. Er winkt ihm lieber nett zu.
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