: Sicherheit war nie ganz nachgewiesen
■ Nachdem nun ein Radbruch als Unfallursache feststeht, ist nach wie vor ungeklärt: War es ein Materialfehler oder Überbeanspruchung?
Ein gebrochener Radreifen hat das schlimmste Zugunglück der deutsche Nachkriegsgeschichte verursacht. Das hat Hans-Heinrich Grauf vom Eisenbahnbundesamt gestern vor dem Verkehrsausschuß des Bundestages berichtet. An einem Rad des ICE sei der Radreifen, der auf der Radscheibe sitzt und sie in der Spur hält, rund sechs Kilometer vor der Unfallstelle in Eschede gebrochen. Nach 200 bis 300 Metern habe er sich von der Scheibe gelöst, aufgebogen und im Drehgestell verkeilt. Im Bahnhof von Eschede habe er sich dann in einer Weiche verhakt.
Teile der Weiche haben sich laut Grauf in das Innere eines Waggons gebohrt. Durch diesen Aufprall sei vermutlich der beschädigte Radsatz aus der Spur gekommen. Die reifenlose Radscheibe sei von der Schiene gerutscht, das gegenüberliegende linke Rad entgleist und nach 120 Metern auf eine zweite Weiche geprallt.
Durch diesen Aufprall sei die Weiche in Rechtslage umgestellt worden, wodurch nach dem Mittelwaggon auch die folgenden Waggons entgleist seien. Dabei habe sich einer der Waggons unter der Brücke quergestellt. Dessen hinteres Ende habe dann den Pfeiler der Brücke weggeschlagen. Der folgende Wagen hatte noch genug Schwung, um die Brücke zu passieren. Der dann folgende Waggon wurde unter der Brücke begraben, die danach wurden wie ein Zollstock ineinandergeschoben.
Mit dem Untersuchungsbericht haben sich die Vermutungen, die schon zwei Tage nach dem Unfall auftauchten, bestätigt. Der geborstene Radreifen hat 100 Menschen das Leben gekostet. 88 Reisende des ICE Wilhelm Conrad Röntgen sind durch den Unfall schwer verletzt worden.
Die Deutsche Bahn AG gab sich gestern völlig überrascht. So ein „Dauerbruch von innen“ sei noch niemals bei einem ICE-Rad vorgekommen. Und wenn er vorgekommen wäre, hätten die Techniker der Deutschen Bahn ihn auch bislang nicht bemerkt. Derartige Fehler können sie nur mit Ultraschall feststellen. Zwei Geräte hat die Bahn für derartige Untersuchungen 1992 installiert: Die Anlage in Hamburg war sogar kurzfristig in Betrieb gegangen, funktionierte aber nicht richtig. Das zweite Ultraschallgerät in München wurde daraufhin gar nicht erst eingesetzt. Die ICE der ersten Generation fuhren jahrelang auf Rädern, deren Betriebssicherheit bis heute „nicht vollständig nachgewiesen“ werden kann, sagte Horst Stuchly, Präsident des Eisenbahnbundesamtes gestern vor dem Verkehrsausschuß.
Laut Bahn müsse nun geprüft werden, ob ein Materialfehler oder eine Überbeanspruchung vorliege. Das schadhafte Rad habe die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt.
„Kein Bahnunternehmen der Welt führt Ultraschallprüfungen durch“, sagte gestern Bahn-Sprecher Martin Katz. Selbst wenn das stimmt, war der Bahn AG doch aber bewußt, daß sie die ungewöhnlichen Radreifen ihrer ICE nur mit Ultraschall untersuchen könnte. Darauf hat sie aus bislang nicht geklärten Gründen verzichtet. Ali Schmidt, Verkehrsexperte von Bündnis 90/Die Grünen, fragt daher, warum das Eisenbahnbundesamt – Aufsichtsbehörde über die Deutsche Bahn – nicht effiziente Radkontrollen verlangt hat. Ulrike Fokken
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