■ Alle Jahre wieder wird die Mär aufgewärmt, Wallraff sei Stasi-Spitzel gewesen. Denn: Wer den Westen kritisierte, mußte Ost-Agent sein
: Dichtung und Wahrheit

Es gibt Fiktionen, die passen so genau und bedienen so viele Interessen, daß sie beharrlich Wirklichkeit einfordern. Ihre Faktenfaktenfakten produzieren sie bei Bedarf gleich mit: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Eine solche zählebige Geschichte ist die von Günter Wallraff als „IM Wagner“, die jetzt, sechs Jahre nach ihrer Erfindung im inzwischen eingestellten Revolverblatt Super, wieder durch die Zeitungslandschaft irrlichtert. Damals wurde die Behauptung, Wallraff sei ein Stasi- Agent gewesen, gerichtlich untersagt. Und ARD-Kommentator Heinz-Klaus Mertes, der den Fall in den „Tagesthemen“ hämisch kommentiert hatte, mußte abtreten, nachdem der Super-Kronzeuge, der ehemalige Stasi-Hauptmann Peter Eberlein, eidesstattlich erklärte, von Redakteuren alkoholisiert und unter Druck gesetzt worden zu sein.

Nun grub Focus, wie stets gewitzt darin, aus Fäktchen Fiktionen zu basteln, die abgenudelte Geschichte wieder aus und garnierte sie mit neuem Material: einem aus zerschredderten Papieren rekonstruierten Dokument aus der Gauckbehörde. Zwar konnte selbst das Münchener Magazin daraus keinen „Beweis für die aktive, von ihm (Wallraff) gewollte Unterstützung der Stasi“ zusammenreimen. So ließ man den einstigen linken Enthüllungsjournalisten wenigstens als „nützlichen Idioten für das Ostregime“ erscheinen: Er habe von Stasileuten Informationen – und eben auch Falschinformationen – erhalten und damit an deren Desinformationskampagnen mitgewirkt.

So klingt die Logik des Kalten Krieges: Wer die kapitalistischen Verhältnisse im Westen verändern wollte, mußte ganz einfach Geld aus dem Osten unter der Fußmatte haben. Wahrheiten, die der DDR nutzen konnten, waren demnach keine Wahrheiten mehr, sondern propagandistische Wühlarbeit. Linke Journalisten wurden, so Focus 1998, von der Stasi als „Einflußagenten“ benutzt – und schon ist unterschwellig die Gleichung zwischen kritischem Journalismus und Agententätigkeit hergestellt.

So primitiv der Vorwurf, so geschickt baut er doch auf einem realen Problem: dem allzu sorglosen Verhältnis der westdeutschen Linken zur DDR. Ungeklärt blieb die Frage, was mit dem eigenen Willen zur Wahrheit geschieht, wenn er einem unwahrhaftigen Staat nutzt. Wenn Wallraff heute sagt: „Ich habe die benutzt, nicht die mich“, spricht daraus immer noch die Unterschätzung dieses Problems, das sich doch gerade für einen Moralisten wie ihn stellen müßte.

Umgekehrt – und das ist heute viel entscheidender – scheint nun aber jede Kritik an der BRD postum delegitimiert werden zu sollen, um mit der DDR die Kritik an den bestehenden Verhältnissen gleich mitzuentsorgen. Jenseits des alten Antagonismus von Gut und Böse, Denen dort und Uns hier, erhebt sich das Bestehende als unerschütterbare Qualität. Wer daran herumdeuteln will, ist ein armer Irrer von vorgestern.

Dabei belegt das von Focus zitierte Papier eigentlich bloß, daß die Stasi sich für Wallraff interessierte – was nicht verwunderlich ist. Denn es entstand 1976, kurz nachdem Wolf Biermann ausgebürgert wurde und bei Wallraff Quartier fand. Und es geht darin vorwiegend um die Zeit von 1966-71, als Wallraf in DDR-Archiven über NS-Verbrechen forschte. In Focus erfährt man davon nur bruchstückhaft. Aus den rekonstruierten Akten werden gewissermaßen wieder Schnipsel hergestellt, um suggestiv Verdachtsmomente zu akkumulieren: Wenn man nur lange genug im Stasi-Goreng herumstochert, wird schon etwas hängenbleiben.

Eigentlich sollte der blödsinnige Agenten-Vorwurf damit erledigt sein. Statt dessen trat vorgestern die FAZ auf den Plan, um das Thema aus der haltlosen Faktenebene ins Ideologische hinüberzuretten. Wallraff müsse sich nicht wundern, den Verdacht nicht loszuwerden, habe er doch selbst in seiner journalistischen Arbeit den „Verdacht zu seinem Begleiter gewählt“, eine Art Generalverdacht gegen den Kapitalismus als Verschwörung, gegen „den Verblendungszusammenhang“ und die „Manipulation“ durch „die Herrschenden“ – Begriffe, die in diesem Artikel in Anführungszeichen stehen wie einst die DDR bei Springer, als handle es sich um eine rührende Erfindung vergangener Tage.

Es ist etwa so, als werfe man Frauen in kurzen Röcken vor, eigentlich selbst schuld zu sein, wenn sie von Männern belästigt werden. Anstatt in der Focus-Geschichte ein Beispiel manipulativer Berichterstattung zu erkennen, taugt es nun plötzlich zum Vorwurf gegen Wallraff, daß er einmal unter der altmodischen und ebenfalls in Anführungszeichen zu schreibenden Prämisse „Aufklärung“ angetreten ist. Durch seine Undercover- Recherchen – als Bürobote, als Bild-Reporter, als türkischer Arbeiter bei Thyssen – habe er sich in „einen Agenten in eigener Sache“ verwandelt, der „nicht für eine bestehende Dienststelle, sondern im eigenen Auftrag oder für ein imaginäres Amt für Verfassungsschutz unterwegs war“. So kommen wir mit der FAZ zum kuriosen Schluß, daß Wallraff zwar kein wirklicher, aber doch ein „vorstellbarer“ Agent war.

Was früher einmal Aufklärung hieß, heißt demnach heute Agententätigkeit. Und wo einmal Moral war, ist heute nur noch Eitelkeit. Die „moralische Verkommenheit“ des Kapitalismus, die Wallraff mit seinen Reportagen anprangerte, möchte zwar nicht einmal die FAZ ernsthaft bestreiten. Aber es soll uns doch möglichst psychopathisch erscheinen, darauf zu sprechen zu kommen. Ein Aufklärer in der Gestalt eines Büroboten? Eine „skurrile, fast lächerliche Gestalt“. Wissen wir nicht sowieso über die Verkommenheit der Welt hinreichend Bescheid? Wozu noch Aufklärung in einer Welt der Abgeklärten? Längst hat es sich als gesellschaftlicher Konsens durchgesetzt, den Willen zur Aufklärung als dummen Moralismus zu denunzieren und nur noch als bigotte Anmaßung zu begreifen.

Wallraff wollte die Verhältnisse verändern, indem er sie beschrieb. Das mag naiv gewesen sein und war doch notwendig. Heute, wo es statt um Inhalte nur noch um Haltungen geht, statt um die Stichhaltigkeit eines Arguments um die Motivlage des Urhebers, ist es leicht, sich darüber zu erheben. Da fügt es sich geschmeidig in die allgemeine Bewußtseinslage, wenn die FAZ den Aufklärer als Figur der „literarischen Phantasie“ der Lächerlichkeit preisgibt und seine Arbeit zur Fiktion erklärt. Dabei ist sogar der Bundespräsident schon weiter. Hat er nicht erst unlängst die Intellektuellen zu „ätzenderer Kritik“ aufgefordert? Jörg Magenau