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Am Ende rufen alle „Berti“

Beim 2:2 gegen Jugoslawien bestätigt das deutsche Team samt Lothar Matthäus die vermuteten Stärken und Schwächen bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft  ■ Aus Lens Peter Unfried

Guten Morgen, liebe LeserIn. Hier kommt die schöne Nachricht aus Lens: Lothar Matthäus ist seit gestern abend neuer Weltrekordhalter, was WM-Einsätze betrifft. Beim 2:2 gegen Jugoslawien stand er zu Beginn der zweiten Hälfte plötzlich auf dem Feld, um sein 22. WM-Spiel zu absolvieren. Es handelte sich – wie bei den zuvor erfolgten „Matthäus“-Chören der deutschen Anhängerschaft – allerdings zunächst um den Ausdruck tiefer Ratlosigkeit einer Fußballmacht, die mit ihrem Latein ganz offensichtlich am Ende war. Matthäus fiel dann auch nicht auf – und das DFB-Team drehte dennoch ein verlorenes Spiel herum. Am Ende riefen die Leute „Berti“.

Wie kam das DFB-Team zurück? Auf die bekannte, auf der ganzen Welt gefürchtete Art. Es weigerte sich einfach zu verlieren. Nach dem abgefälschten Freistoß des eingewechselten Tarnat zum 1:2 war plötzlich wieder alles möglich. Bierhoffs Kopfballtreffer zum 2:2 nach Ecke Thons schien dann fast folgerichtig. Tatsächlich hatte keiner damit gerechnet, nach einer Stunde 0:2 zurückzuliegen. Dabei hatten die Jugoslawen bloß genau aufgepaßt. Sie wußten, wie den Deutschen beizukommen war. Das Erfolgsrezept ging so: Sie ließen sich nicht auf Tempofußball ein, mit dem Vogts den Erfolg erarbeiten will. Statt dessen verlangsamten sie das Spiel und suchten in einer einzelnen beschleunigten Situation den Erfolg. Das funktionierte beim 1:0, als Mijatovic aus scheinbar harmloser Position einen Schlenzer Richtung Strafraum schickte, an dem Stankovic vorbeigrätschte – und Köpke nicht mehr ran kam (12.). Stojkovics 0:2 fiel dann, weil selbst Keeper Köpke plötzlich Schwäche zeigte.

Das DFB-Team hatte einige von Vogts' Vorgaben nicht umsetzen können. Die „Ordnung“ im zentralen Mittelfeld fehlte, obwohl Vogts es wie erwartet mit seiner angestammten WM-Taktik versucht hatte, der Defensiv-Variante mit Jeremies und Hamann. Die beiden konnten sich aber dort keine Dominanz erarbeiten. Man lief schon – aber jeder für sich. Diese Hilflosigkeit, die Unfähigkeit, eine gemeinsame Arbeitsbasis zu finden, führte dazu, daß die Deutschen viel mehr reagieren mußten und viel häufiger in 1:1-Situationen kamen, als ihnen lieb sein konnte. Das Gesicht von Jeremies sprach einige Male deutlich Bände: Was zum Teufel passiert mit uns? Wer ist hier zuständig?

Einmal spielte Petrovic Thon lapidar aus, bloß weil alle anderen gedeckt waren (26.) – Köpke mußte tief tauchen. Als Bierhoff ein Ball weit von der Brust sprang, machten sich die Jugoslawen mit einigen Kabinettstückchen über die Tolpatschigkeit der Deutschen lustig. Das war der Moment, an dem man dachte, nur noch die Wut über die offensichtliche Hilflosigkeit könnte das DFB-Team voranbringen. Am Ende war es jene Wut, die es ins Spiel und Turnier zurückbrachte. Auch wenn sie lange Zeit längst nicht so groß zu sein schien, wie die der vielen kartenlosen Deutschen vor dem Stadion, die ihre Aggression am Mobiliar von Straßen-Cafés ausließen. Am Ende hatten die Deutschen den Jugoslawen ihr Tempo diktiert – von da an gab es kein Halten mehr.

Was wird nun passieren? Einige müssen lernen, mit dem Verdacht zu leben, das deutsche Team sei für höchste Ansprüche eben doch nicht gut genug. Vogts wird viel über die Lehren reden, die zu ziehen sind. Dietmar Hamann und der nach Sprechchören („Ziege raus“) ausgewechselte Ziege könnten die ersten Opfer sein. Die nackte Erkenntnis heißt: Wollen die Deutschen ins Achtelfinale, sollten sie zur Sicherheit kommenden Donnerstag den Iran schlagen.

Jugoslawien: Kralj – Komljenovic, Mihajlovic, Djorovic, Petrovic (74. Stevic) – Stankovic (68. Govedarica), Jokanovic, Jugovic, Stojkovic – Mijatovic, Kovacevic (58. Ognjenovic)

Zuschauer: 41.275 (ausverkauft)

Tor: 0:1 Mijatovic (13.), 0:2 Stojkovic (54.), 1:2 Tarnat (74.), 2:2 Bierhoff (80.)

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