Das Montmartre oder Bonn von Berlin

Neun Jahre nach dem Mauerfall stolpert ein Bezirk in die Normalität – daran können auch 99 Prozent Künstler und die Diskussion über den „Mythos Prenzlauer Berg“ in der Kulturbrauerei nichts ändern  ■ Von Alexander Remler

Der Wandel vom Oppositionsbezirk zum schicken Speku-Land ist schon längst vollzogen. Sagen die einen. Prenzlauer Berg ist die Werkstatt der Einheit im kleinen: Hier begegnen sich Ost und West, Jung und Alt. Sagen die anderen. Und der Soziologe Georg Simmel war überzeugt: „Die Großstädte prägen die Bewußtseinslage ihrer Bewohner.“ Offenbar hat man in Berlin keinen gemeinsamen Nenner für die Veränderungen nach dem Mauerfall gefunden, vielleicht hat man ihn auch gar nicht gesucht.

Kein anderer Bezirk ist so daran gewöhnt, von Mythen und Legenden umgeben zu sein, wie der Prenzlberg. So konnte der Verleger Christoph Links vor einiger Zeit schön prognostizieren: „Schon bald ziehen Yuppies aus dem Westen in die teuer sanierten Dachgeschosse und bevölkern an den Wochenenden zum Brunch die gehobeneren Restaurationen.“ Im Fahrwasser dieser Aussage gehört es heute fast schon zum guten Ton, die Gegend um Kollwitzplatz und Wasserturm mit wegwerfender Geste abzutun. Ach, Touris.

Als in der letzten Woche eine Diskussion zum „Mythos Prenzlauer Berg“ in der Kulturbrauerei stattfand, gingen die Meinungen weit auseinander. Auf Einladung des Vereins Pro Prenzlauer Berg führten der West-Politiker Klaus- Rüdiger Landowsky (CDU), der Ost-Literat Peter Wawerzinek, Journalisten und Anwohner eine Diskussion, wie sie zu erwarten war. Denn wo sich Landowsky „ein Stück Montmartre von Berlin“ erhofft, fürchtet sich der Liedermacher Hans-Eckart Wenzel schon davor, daß „Prenzlauer Berg mal irgendwann so aussieht wie Hamburg oder Bonn“. In diese Schreck- und Hirngespinste hinein wurde der Kneipier aus dem Westen mit dem Restaurant am Kollwitzplatz gefragt, ob er angesichts regelmäßig eingeschmissener Scheiben schon überlegt habe, aufzugeben. „Nö, nö, nö“, antwortete er hastig. In die folgende Stille hinein war wieder etwas zu spüren vom Mißtrauen und den Problemen eines Bezirks, acht Jahre nach der Vereinigung.

Eyk Hirschnitz, Kopf der Künstler-Gruppe Shining, steht in dem „Labor“, seiner Werkstatt, in der er „Lichtkörper“ bunt gestaltet und ausgestellt hat. Wenn er aus dem Fenster sieht, entdeckt er noch etwas von dem alten Charme der Gegend. Doch draußen, hinter dem rostigen Eingang, sieht die Welt schon anders aus.

Anschreiben lassen gilt nicht mehr ...

„Zu DDR-Zeiten war der Bezirk so etwas wie eine freie Zone.“ Aber heute? Da säßen in den neueröffneten Cafés nur noch die „Langweiler“. Die, denen man ansehe, daß sie einen guten Job hätten. Die Luft sei raus. Vorbei die Zeiten, als man den Wirt noch mit Vornamen ansprechen und auf dem Zettel hinter der alten Kasse anschreiben lassen konnte.

Anschreiben lassen gilt auch im Café Kiryl nicht mehr. Im Kiryl trugen einst bürgerbewegte Autoren ihre Dichtung vor. Und auch nach der Wende verirrte sich, besonders durch die Zusammenarbeit mit dem Galrev (umgedreht: Verlag), noch so manch klangvoller Name in die Lychener Straße. Einst zog Sascha Anderson Medien und Publikum auf sich. Heute drehen sich kaum mehr zehn Köpfe, wenn Barkeeper Karl wieder eins seiner „jungen Talente“ vorstellt.

Der Kulturpessimismus ist die eine Seite des Bezirks. Die Seite, die hin und wieder in Feindseligkeit und Gewalt umschlägt. Die, deren Höhepunkt vielleicht in dem Mordaufruf gegen den SPD-Mann Wolfgang Thierse bestand, die ihm ins Haus flatterte, als er sich für die Errichtung eines Multiplexes eingesetzt hatte. Doch daneben gibt es auch die andere Seite. Die Kastanienallee präsentiert sich als Mischung aus Off-Kultur und Studentenszene. Zwischen Prater und Acud sei einfach alles vorhanden, meint Wibke Janssen, Gründerin des Docks11, eines Kulturhofs mit Tanzschule, Veranstaltungen und Galerien. „Wir kommen aus der Straße nicht mal mehr raus.“

Häufig aber wird die Vielfalt von Kneipen, Läden und Kultur mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Bedauern kommentiert. „Ich verstehe nicht, warum sich die Leute darüber beklagen, daß ihr Bezirk so interessant ist“, meint Landowsky. Tjaha, erhebt da der Liedermacher Hans-Eckart Wenzel den Zeigefinger, denn „bevor neue Leute kommen konnten, mußten doch die alten erst mal gehen“. Und Peter Wawerzinek eilt ihm zur Unterstützung an die Seite: „Ganze Großfamilien wurden durch die Yuppiesierung verdrängt.“ Eine Aussage, die Bezirksbürgermeister Richard Kraetzer auf den Plan ruft.

... und die Szene ist längst weitergezogen

Gebetsmühlenartig wiederholt er seit Jahren, daß es „doch gerade nicht die sozial Schwachen und die Familien sind, die wegziehen, sondern diejenigen, die sich ihren Wunsch nach einem Reihenhaus im Grünen endlich verwirklichen“. Die „Verelendung des Bezirks“ (Berliner Zeitung) liege vor allem am Weggang der Besserverdienenden.

Daraufhin schweigt Wawerzinek. Er fühlt sich nur in der Rolle des kritischen Chronisten wohl. In der Vergangenheit hat er sich vor allem dadurch einen Namen gemacht, die „Prenzlpoeten“ an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen: in ihrer Eitelkeit. In seinem Roman „NIX“ berichtete er von der alten Künstlerkneipe, in der „man sich nur besaufen durfte, wenn man ein Buch geschrieben, mehr als eine Lesung besucht hatte und auch sonst sehr aktiv war“. Und die vielgerühmten Dichterlesungen im kleinsten Kreis zu DDR-Zeiten fanden ohne ihn statt. Die Exklusivität entsprach einerseits einem verständlichen Sicherheitsbedürfnis, anderseits diente sie aber auch der Selbststilisierung. Und im Westen veröffentlichen durfte sowieso nur, wer von Anderson oder Rathenau empfohlen wurde. Heute lebt der etwas untersetzte Autor mit dem roten Kopf in Kreuzberg. Vielleicht haben ihn ja die „99 Prozent Künstler in Prenzlauer Berg“ vertrieben.

Mythos und Legende waren immer Wegbegleiter des Bezirks. Vielleicht strauchelt Prenzlauer Berg heute nun, weil das Ende der Ausnahmestellung erreicht und die Zeit der Normalisierung angebrochen ist. Wenn da nur der Kneipier am Kollwitzplatz nicht wäre. Die Szene, so hört man, sei schon längst weitergezogen. Vielleicht nach Friedrichshain, vielleicht ins Nirgendwo. Kerstin Seeligmüller vom Dock11 sagt zwar: „Wir haben uns hier nie als Wessis empfunden.“ Doch die Bewohner aus dem Osten sehen das oft anders. Aber nach Beispielen marodierender Wessis gefragt, muß die Galeristin Sybille Kesslau von Koch und Kesslau lange überlegen. Schließlich fallen ihr die Feinkostläden ein. Neben dem Kollwitzplatz die zweite Konstante in den bezirklichken Un-Bildern. Deren Zahl habe schon erstaunlich zugenommen. Aber schließlich scheint sich auch hier Normalität breitzumachen, denn nach kurzem Zögern fügt sie an: „Aber irgendwie sind die ja auch ein Zeichen von Lebensqualität.“