: Das eiskalte Glück
Damals, als das Eis am Stiel noch zwanzig Pfennig kostete... Eisgeschichten beginnen gerne früh, und die Geschichte des Eises wurde vielen Kulturen angedichtet. Tatsächlich stand die Wiege der europäischen Eiskultur im sizilianischen Ätnaschnee, dann kamen die Kältemaschinen, das Jasminblütensorbet und am Ende das Magnum von der Tankstelle ■ Von Wolfgang Abel
Das erste Eis am Stiel gehört zu den lebenslang bleibenden Erlebnissen. Zwei Groschen kostete ein Block Erdbeereiscreme „einfach“. Er war mit einem hochdünnen, filigran geprägten Stanniolpapier verpackt, verschmolzen mit einem Hölzchen, das ein wenig an die Spatel vom Hals-Nasen-Ohren-Arzt erinnerte. Schon das Öffnen des Papiers war ein Ritual. Proleten sind bereits im zarten Alter daran zu erkennen, wie sie mit Eispapier umgehen.
Und dann erst recht am Schleckrhythmus: Es gibt Lutscher und Beißer – und arme Würstchen, die immer und überall mit der falschen Sorte ankommen. Wichtig war es, den Holzspatel ganz sauber zu lecken, noch etwas von seinem herben Aroma rauszusaugen und den blanken Stiel dann, einem Graffito gleich, in irgendeine verbotene Ritze zu stecken. Wenig später dann, bei Dino vor der Eisdiele, begann der Ernst des Lebens. Die mit den Mopeds hatten die schönsten Mädels.
Eisgeschichten beginnen ganz früh. In der Chemie der Erinnerungen muß das Eis eine wichtige Rolle als Botenstoff spielen. Vanilleeis mit Schokoladenglasur, die immer so abblättert, daß kleine, zwischenmenschliche Chancen entstehen oder Katastrophen. Man kann eben nicht alles haben, aber man versucht es, immer schon: Römer, Griechen, Perser – allen wird die Erfindung der Kühlspeise angehängt. Chinesische Eisernten sind bis ins erste Jahrtausend vor Christus nachgewiesen.
Die Wiege der europäischen Eiskultur steht aber dort, wo Hitze und Kälte am unmittelbarsten aufeinandertreffen: in Sizilien. Der Ätnaschnee wurde ganzjährig in neviere, den gemauerten Schneegruben, verdichtet und konserviert. Im siebzehnten Jahrhundert konnte Kälte dann erstmals künstlich erzeugt werden, durch Lösen von Salpetersalz in Wasser. Im Jahre 1876 erfand Carl von Linde die erste richtige Kältemaschine, was zur weiten Verbreitung, aber kaum zur Verbesserung von Speiseeis führte. Denn spätestens seit Linde wird alles, was das Gesetz erlaubt, und manchmal noch ein bißchen mehr, zu Eis gemacht – unverfroren.
Dabei hat der Stammbaum der modernen Eisvielfalt eigentlich nur zwei Elternteile: Wassereis und Milcheis. Beim Vereisen von Fruchtauszügen auf wäßriger Basis gelten bis heute die Sizilianer als Meister des Fachs. Ihre Archetypen der Eiskunst haben sich bis heute gehalten: Eine Granita, frisch gerührter, geeister Saft von Zitronen oder Mandarinen, ein Sorbetto, nur weich angefrorenes Fruchtmus von Erdbeeren oder Pfirsichen, gibt es heute noch; am reinsten in den unscheinbaren Gelaterien Südostsiziliens.
In dem ebenso informativen wie animierenden Bildband „Cucina Siciliana“ – Die sizilianische Küche – von Peter Peter wird einiges über solche Schau- und Schmeckplätze sizilianischer Eiskunst verraten. Etwa die „Bar Centrale“ am Domplatz von Floridia oder das Wunder von Costanzo in Noto: Jasminblütensorbet, Rosenwassereis und ein herbsüßes Mandarinenparfait aus der spätreifenden Lokalsorte Tardivo di Ciaculli. Für Feinzüngler sind Peters sizilianische Adressen jedenfalls ein hinreichendes Reisemotiv. Im übrigen war es auch ein Sizilianer, der bereits zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts ein (Eis-)Café in Paris gründete. Das legendäre „Procope“ soll knapp hundert verschiedene Sorten angeboten haben.
Aber erst mit dem Aufkommen der Kältemaschine wird das Eis so richtig international: Die berühmten Eismacherdynastien aus Norditalien ziehen über die Alpen, das Spektrum möglicher Zutaten wächst nochmals gewaltig. Die Verwendung von Milch, Sahne, Schlagsahne, Eiweiß und Eigelb führt zu einer Unmenge von Rezepturen, und insbesondere in Frankreich versteht man es, die neue Vielfalt zu präsentieren. Die Sizilianer verlieren ihre Vorherrschaft, französische Eisingenieure geben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den Ton an.
Mit den neuen Kühlmaschinen können cremige, harmonische Milcheissorten wirtschaftlich hergestellt und gelagert werden. Die Franzosen imponieren fortan mit opulent konstruierten Eisbomben, monströse Weiterentwicklungen der ursprünglich ebenfalls auf Sizilien erfundenen pezzi duri, der harten Stücke. Escoffier listet in seinem Kochbuch nahezu einhundert verschiedene Baupläne auf: bombe Alhambra, bombe Medici, bombe Odessa – die Geschichte Europas als Eispalast.
Mit dem Aufkommen der industriellen Eisproduktion geriet die überlieferte Vielfalt von Zutaten und Rezepturen in Bedrängnis.
Rasch wechselnde Geschmackstrends traten an die Stelle der spätreifen, sizilianischen Mandarinensorte Ciaculi. Die Menge von Verpackungen und Saisonnamen ersetzte nun die der Zutaten. Kaum erwachsen geworden, bekam die Eisdiele Konkurrenz durch die Tankstelle. „Ich und mein Magnum“, das erfolgreichste Eis, der erfolgreichste Slogan aller Zeiten, ist im Grunde ein Totenreim auf die alte Eiszeit.
„Ich und mein Magnum“ – das ist Minutenglück durch die Verschmelzung mit einer Marke. Der Erfolg der Kampagne erklärt sich auch aus der alttestamentarischen Strenge der Botschaft. Magnum ist ein totalitäres Eis, denn sein Werbespruch bedeutet auch: Du sollst niemand neben mir haben. Eisdielen sind da liberaler.
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