: „Blüten der Selbstverwirklichung“
■ Chinas Romancier Chen Zhongshi fürchtet die Amerikanisierung nicht
Trotz scharfer Kritik konservativer Parteikreise wurde Chen Zhongshi für sein Werk „Das Land des weißen Hirsches“ 1997 mit dem Mao-Dun-Preis, Chinas höchstem Literaturpreis, ausgezeichnet. Der in Xian lebende 56jährige Schriftsteller entwirft darin das Sittengemälde eines Dorfes in der ersten Jahrhunderthälfte, ohne die Rolle der Kommunisten zu beschönigen.
taz: Die Bürger Ihrer Heimatstadt Xian haben Präsident Clinton einen rauschenden Empfang bereitet. Teilen Sie die Begeisterung?
Chen Zhongshi: Man darf die Massenaufläufe für Clinton nicht voreilig interpretieren. Viele Chinesen geben den Amerikanern immer noch die Schuld für zahlreiche Fehlentwicklungen in der Geschichte. Die ideologischen Konflikte und Meinungsunterschiede zwischen beiden Nationen bestehen fort. Dennoch ist der Besuch eine gute Sache: Clinton folgt damit der Regel, daß jeder US-Präsident seit Nixon 1972 nach China kommt. Für das richtige Verständnis brauchen Chinesen und Amerikaner Zeit. Es scheint, als nähmen sich beide Länder heute diese Zeit.
Clinton besucht die alte Kaiserstadt Xian zu Beginn seiner Reise, um seinen Respekt vor der chinesischen Kultur kundzutun. Zerstört nicht heute amerikanischer Einfluß die Kultur Ihres Landes?
Zunächst einmal wählt Clinton das richtige Symbol: Das Gebiet um Xian bleibt Zentrum unserer Kultur, beispielsweise der Literatur. Zwar ist auch hier der westliche Einfluß groß, aber er kann die Tradition nicht verdrängen oder ersetzen. Natürlich trinken wir alle, mich eingeschlossen, Coca- Cola. Aber unser Hauptgetränk bleibt Tee. Auch in Xian gibt es zum großen Vergnügen der Jugend amerikanisches Fast food. Aber McDonalds ist keine Gefahr für die chinesische Küche. Amerikas Einfluß ist eine Bereicherung, die für den wirtschaftlichen Aufbau sogar unersetzlich ist. Kulturell können wir auf unsere eigene Stärke vertrauen.
Was macht Sie da so sicher, wo doch der Hollywood-Streifen „Titanic“ auch in Xian alle Kino-Rekorde gebrochen hat?
Ich wehre mich gegen das Gefühl der Machtlosigkeit, das manche chinesische Kulturschaffende angesichts solcher Ereignisse beschleicht. Es ist doch gut, wenn das amerikanische Konzept der Selbstverwirklichung auch junge Chinesen erreicht. Unsere Gesellschaft braucht die Anstrengung jedes einzelnen. Nur so kann die chinesische Kultur neu aufblühen. Interview: Georg Blume
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