Kommentar: Weiches Ei
■ Warum gebaute Realität sich nicht an die Berechnungen der Konstrukteure hält
Tschernobyl, Eschede, Halstenbek: eine auf den ersten Blick vielleicht übertrieben gewollte Ereigniskette. Und doch gibt es ein Bindeglied – den blinden Glauben an die Berechenbarkeit von realisierter Technik. Die statistische Unmöglichkeit eines AKW-GAUs, die berechnete Unwahrscheinlichkeit einer unsichtbaren Materialermüdung im Radreifen, das Festhalten am ästhetisch ansprechenden, konstruktiv aber gewagten Dach des Sport-Eis von Halstenbek – jedes Mal werden die Ingenieure von der Wirklichkeit auf die ideologischen Gefahren ihrer Rechengläubigkeit verwiesen.
Die gotischen Kathedralen des Spätmittelalters, wahre Meisterwerke der Statik, verdanken ihre Stabilität einer durch zahllose Einstürze gewonnenen Erfahrung. Auch die Eisenkonstruktionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Spannbetontechnik von Berlins Schwangerer Auster oder von Autobahnbrücken haben ihren Konstrukteuren einen erheblichen Einsturzzoll abverlangt. Versuch macht klug.
Sollte man meinen. Doch offensichtlich glauben viele Bauingenieure, Bauherren und Architekten immer mehr daran, daß zu errichten ist, was errechnet werden kann – und das ist dank PC fast alles. Die Grenzen der Materialforschung und die Unmöglichkeit, bei Neukonstruktionen wirklich alle Belastungseventualitäten im Vorweg modellhaft abzubilden, werden viel zu wenig ernst genommen.
Also Schluß mit jeder neuen kühnen Konstruktion? Nein. Aber mehr Risikobewußtsein und mehr Respekt vor den Grenzen der Rechenbarkeit dürfte es schon sein. Florian Marten
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