: UN-Offizielle sprechen erstmals von der Pest
■ Zum Auftakt der Welt-Aids-Konferenz legten die Vereinten Nationen eine erschreckende Bilanz vor. In einigen Ländern ist bereits jeder vierte Erwachsene mit dem Aidsvirus infiziert
Es war lange verpönt, die Infektionskrankheit Aids mit der Pest zu vergleichen. Man wollte keine verschütteten Seuchenängste aktualisieren, nicht das falsche Bild einer rasenden Killerepidemie malen, die durch Tröpcheninfektion übertragen wird und binnen Tagen zum Tod führt. Vergangene Woche wurde die Metapher vom schwarzen Tod entgegen aller Übereinkünfte dann doch bemüht. Ausgerechnet die obersten Aids- Wächter der Vereinten Nationen sprengten den Konsens. Wenige Tage vor der am Wochenende in Genf eröffneten 12. Welt-Aids- Konferenz hatten die UN einen neuen „Global Report“ vorgelegt, in dem die Verbreitung des HI-Virus Land für Land exakt dokumentiert ist.
Die darin enthaltenen Zahlen für das südliche Afrika sind so deprimierend, daß sich der Vergleich mit den großen Killern der Menschheitsgeschichte tatsächlich aufdrängt. Die Aids-Epidemie, so das UN-offizielle Statement, verheere Afrika in einem Ausmaß, das nur noch mit der mittelalterlichen Pest und dem Seuchenzug des Influenzavirus von 1918 verglichen werden könne.
Eine Flut von Zahlen belegt die dunkle Metapher. Die schlimmsten Ziffern kommen aus Botswana und Zimbabwe. In den beiden südafrikanischen Ländern ist heute jeder vierte Bewohner im Alter von 15 bis 50 Jahren mit HIV infiziert. Peter Piot, der Direktor des UN-Programms gegen Aids, stockte an dieser Stelle und sagte, daß er diese Zahlen zuerst nicht glauben wollte. Bis heute falle es ihm schwer, sich vorzustellen, was es bedeute, wenn in einem ganzen Land tatsächlich jeder vierte Erwachsene diese tödliche Krankheit in sich trage.
Trotz dieser weltweit höchsten Ansteckungsrate von 25 Prozent der Bevölkerung breitet sich das Aidsvirus weiter mit ungebremstem Tempo aus. Im weltweiten Maßstab haben sich alle Hoffnungen, daß die Zahl der Neuerkrankungen zurückgehen, daß die Spitze der Epidemie gebrochen sein könnte, als verfrüht erwiesen. Es infizieren sich mehr Menschen als jemals zuvor – 16.000 an jedem Tag.
In mindestens 13 afrikanischen Ländern hat die Infektionsrate unter den Erwachsenen die Zehnprozentmarke überschritten. Die Pest hat im Mittelalter etwa 20 Millionen Europäer getötet. Das HI-Virus wird in den nächsten zehn Jahren mehr als 20 Millionen Afrikaner umbringen. Aids hat inzwischen die Malaria eingeholt und ist nach der Tuberkulose der zweitgrößte Killer.
Wenn die gegenwärtige Entwicklung anhält, wird die Infektionskrankheit schon im nächsten Jahrzehnt zur Todesursache Nummer eins aufsteigen. „Wenn HIV die Menschen genauso schnell töten würde wie die Pest, dann würde diese Epidemie sofort gestoppt werden“, glaubt UN-Direktor Piot.
Doch HIV tötet langsam. Die Aids-Epidemie ist eine fast lautlose Explosion. Die am Jahresende 1997 gezählten 31 Millionen Menschen, die weltweit infiziert sind, werden in der großen Mehrheit erst im nächsten Jahrhundert sterben. Gegenwärtig wissen die meisten dieser Infizierten noch nicht einmal, daß sie das Virus in ihrem Körper haben. In Afrika bleiben 90 Prozent der Betroffenen aus Mangel an medizinischer Versorgung ungetestet.
Die Genfer Konferenz steht dieses Jahr unter dem Motto „Die Kluft überwinden“. Und jeder Teilnehmer weiß, daß sie nicht zu überwinden ist. Während die Westeuropäer deutliche Erfolge und fast eine Halbierung der Aidsfälle – nicht der Infektionen! – von 1995 bis 1997 melden, eskaliert die Lage in den Entwicklungsländern. Ungerührt sehen die Reichen weg, während die Infektionskrankheit ganz langsam, aber bis in die Details dokumentiert, Afrika und Asien verwüstet. Ein bekanntes Phänomen: Nachdem jahrelang die Katastrophe beschworen wurde, erlahmt die Aufmerksamkeit just in dem Augenblick, in dem sie eintritt.
In Botswana, wo in einzelnen Städten bei Stichproben in Krankenhäusern schon jede zweite schwangere Frau als infiziert festgestellt wurde, hat Aids die Lebenserwartung wieder auf den Stand der sechziger Jahre zurückkatapultiert. Innerhalb eines Jahres rutschte das Land in der weltweiten Wohlstandsrangliste, die auf Einkommen, Bildung und Lebenserwartung basiert, um 26 Plätze nach unten.
Und die gute Nachricht? Sie kommt ebenfalls aus Afrika. Uganda und Senegal haben beachtliche Fortschritte im Kampf gegen die Aids erzielt. Beide Staaten zeigen, daß durch kluge, entschlossene, tabulose Kampagnen für Kondome und Safer Sex, durch die Mobilisierung eines ganzen Landes das Virus tatsächlich unter Kontrolle zu bringen ist. In Uganda ist die Infektionsrate von 13 Prozent im Jahr 1994 auf heute 9,5 zurückgegangen. „Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, es ist auch eine Frage des politischen Willens“, sagte Peter Piot.
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