7.000 wissenschaftliche Arbeiten wurden zur 12. Welt-Aids-Konferenz eingereicht, die gestern in Genf begann. Trotz dieser Flut an Inhalten werden zwei Probleme im Mittelpunkt des Meetings stehen. Die rasende HIV-Ausbreitung und die Rückschläge bei der Therapie Von Manfred Kriener

Die Zeit des Champagners ist vorbei

Robert Gallo, nicht mehr unbedingt der angesehenste, aber immer noch der bekannteste Forscher in Sachen HIV, erwartet von der 12. Welt-Aids—Konferenz in Genf einen „Reality-Check“. Nach der Sektlaune von Vancouver vor zwei Jahren als der Durchbruch der neuen Kombinationstherapie gefeiert wurde, müßten sich Ärzte und Wissenschaftler jetzt den Rückschlägen stellen. „Die Zeit des Champagners ist vorbei.“

Die neue Medikamentenklasse der sogenannten Protease-Inhibitoren hätte zwar „dramatische Fortschritte“ gebracht und die Aidssterblichkeit in den Industrieländern „drastisch reduziert“, aber die Probleme mit dem neuen Therapieregime würden wachsen.

Zwei Themen, prophezeit Robert Gallo, würden auf der Konferenz in Genf im Mittelpunkt stehen: die toxischen Nebenwirkungen der antiviralen Medikamente und der komplizierte Einnahmemodus des umfänglichen Pillen- Cocktails.

Die Genfer Konferenz könnte darüber hinaus zu einem echten Paradigmenwechsel führen. Die rund 12.000 Ärzte, Wissenschaftler und Gesundheitsarbeiter, die seit gestern eine Woche lang auf dem weltweit größten Wissenschaftlertreffen alle Details der Infektionskrankheit diskutieren, werden über die Gültigkeit alter Dogmen zu streiten haben. Als Ergebnis könnten sie jene Bekämpfungsstrategie korrigieren, die der amerikanische Virologe David Ho vor zwei Jahren erst prägte. „Hit hard and early!“ lautete sein Schlachtruf, mit dem er die behandelnden Ärzte zum frühzeitigen und radikalen Medikamentenbeschuß aus mehreren Arzneiröhrchen gleichzeitig aufforderte.

Das Virus sollte im frühestmöglichen Stadium bei noch gesunden Infizierten attackiert werden, bevor es im Körper die Oberhand gewinnt. Hos Theorie war brillant, sie erscheint bis heute biologisch plausibel. Doch sie stimmt, wie die Erfahrungen der letzten beiden Jahre zeigen, immer weniger mit der Praxis überein.

Hans Jäger, Leiter einer Münchner HIV-Schwerpunktpraxis und Koordinator der großen bundesweiten Therapiestudie, spricht von einer „Spaltung zwischen den Anhängern der reinen Lehre und den Praktikern“. In der täglichen Behandlung zeige sich nämlich, daß diejenigen Patienten, die entgegen dem Hoschen Prinzip vorsichtiger und später mit der antiviralen Therapie begonnen haben – hit careful and later! –, heute gesünder sind als die Frühbehandelten. Hos Theorie „ist von der Wirklichkeit überholt worden“. Seine Hoffnungen auf eine gänzliche Ausrottung des Virus hätten sich ebenfalls als illusorisch erwiesen.

Auch wenn der Erreger unter die Nachweisbarkeitsgrenze gedrückt wird, überlebt er und lernt allmählich, sich trotz der Kombi- Medikamente zu vermehren. Er zeigt die gefürchteten Resistenzerscheinungen, die unter der alten Monotherapie sehr schnell aufgetreten sind. Mit diesen Resistenzentwicklungen, aber auch mit den unangenehmen Nebenwirkungen der neuen Aidsmittel werden Ärzte und Patienten im Alltag verstärkt konfrontiert.

Nach einer Untersuchung der Schweizer Aidsexperten Luc Perrin und Amalio Telenti sollen 30 bis 50 Prozent der Patienten von Resistenzen betroffen sein. Bei 15 Prozent, so zitiert die Woche die beiden Forscher, sei die Kombitherapie „gescheitert“.

Aidsbehandler Jäger bestätigt zwar grundsätzlich diese Probleme, warnt aber davor, die neue Kombinationstherapie pauschal in Frage zu stellen. Resistenzen bedeuteten nicht zwangsläufig das Scheitern der Therapie. „Wir können diese Patienten trotzdem weiterbehandeln, und sie profitieren davon. Ohne die Kombinationstherapie hätten wir nicht die enormen Forschritte und die Verringerung bei den Kranken- und Sterbezahlen.“ Hans-Josef Linkens, Leiter des Medizinreferats der Deutschen Aidshilfe, spricht von einem neuen Realismus in der Aidsbehandlung. Der Traum, man könne nun mit vielen Medikamenten nach Belieben jonglieren, habe sich nicht erfüllt. Es sei offensichtlich, daß eine Reihe von Leuten nicht oder nur wenig von der Kombitherapie profitierten. Gleichwohl werde die Aidshilfe nicht in das große Wehklagen einstimmen.

„Wir haben nach Vancouver davor gewarnt, alles hochzujubeln, jetzt warnen wir davor zu sagen, das bringt doch alles nichts.“ Klar sei indes, daß die zurückhaltenden Ärzte, die später und vorsichtiger mit der Therapie beginnen, „wieder die Oberhand gewinnen“. Und daß zweitens die Nebenwirkungen zunähmen.

Die unerwünschten toxischen Effekte der Therapie haben anfangs zu Durchfällen und Unverträglichkeiten geführt. Heute beobachten die Ärzte zum Teil gravierende Störungen des Fettstoffwechsels. Gesicht, Arme, Beine und Gesäß werden immer dünner, während sich am Körperstamm und im Nacken Polster bilden, „das Körperschema ändert sich“ (Jäger). Mindestens jeder zehnte Patient leidet an diesen Symptomen. Zugleich steigen die Cholesterinwerte bei zwei von dreien. Mit fortgesetzter Therapiedauer – ein Ende ist nicht in Sicht – wachsen die Probleme.

Ob weitere neuentwickelte Medikamente die Situation verbessern, ist unklar. Arzneien, die jetzt in Genf vorgestellt werden, sollen das ärztliche Instrumentarium erweitern, doch sie sind im wesentlichen Modifikationen bereits angewandter Mittel. Immerhin: Änderungen im Nebenwirkungsspektrum wären denkbar. Bei einer Langzeitbehandlung über Jahrzehnte sind auch kleine Verbesserungen ein großer Gewinn.