Aktuelle Folien der Gefühlsproduktion

■ Nicolas Stemann inszeniert mit Werther! den berühmtesten Ego-Trip der deutschen Literatur für Mann, Mikro und Videobeamer beim „Die Wüste lebt!“-Festival

In Goethes Jugend war der geordnete Gefühlshaushalt noch nicht erfunden. Die Liebe und den Weltschmerz ausführlich auszuleben, war en vogue. Eine Zeitlang gehörte sogar das freiwillige Dahinscheiden zum guten Ton, ausgelöst durch einen bekannten Briefroman ohne Happy-End.

Der Werther-Effekt ist heute kaum zu befürchten, und der Überschwang, der des Jünglings Schwärmerei für Lotte begleitet, darf etwas skepitscher beurteilt werden. Doch noch muß man den Werther nicht allein den Deutschlehrern überlassen. An diesem Wochenende wird Regisseur Nicolas Stemann seine Bühnefassung des „wohl berühmtesten Ego-Trips der deutschen Literatur“ dem Hamburger Publikum vorstellen.

Werther!“ entstand am Gostner Hoftheater in Nürnberg und wurde dort im vergangenen November uraufgeführt. Viel Aufwand braucht der Regisseur nicht, um den tragischen Helden in Szene zu setzen, ein Buch, ein Mikrophon, einen Videobeamer, und natürlich den Helden selbst, gespielt von Philipp Hochmair. In einer Vorstellung, die sich zwischen Lesung, Monodram und Perfomance bewegt, spielt Hochmair mit Textbausteinen aus Goethes Jugendwerk. Am Text hat Stemann wenig geändert, weil er gern werktreu arbeitet. Die Klischees dagegen, zu denen der selbsternannte große Künstler Werther seine Umwelt erstarren läßt, können sehr wohl aktualisiert werden.

„Wir suchen auch heute noch Folien, auf die wir unsere großen Gefühle projizieren können“, sagt Stemann. Bilder aus Film und Werbung hätten die gleiche Funktion und die gleiche trashige Qualität wie weiland Werthers Ossian. Eine ironisierende Distanz zum schwelgerischen Liebeskranken sei notwendig, doch denunzieren will Stemann den Werther nicht. Dessen Sehnsucht nach einem Ideal, das sich nicht leben läßt, nimmt er genauso ernst wie dessen tragisches Scheitern. Schritt für Schritt entfernt sich der Held von der Realität, flieht nicht nur den Konflikt, sondern vermeidet jeden echten Kontakt zur Außenwelt, und statt sein rebellisches Potential nutzen zu lernen, geht er unter.

Das Festival Die Wüste lebt!, in dessen Rahmen Werther! gezeigt wird, hat Nicolas Stemann, Absolvent des Regie-Studiengangs der Uni Hamburg, vor zwei Jahren mitbegründet. 1996 wurde sein Stück Der Disney-Killer, 1997 Antigonegone in den Kammerspielen aufgeführt. Interessante Stücke und nette Parties gab es dort von Anfang an. Diesmal, sagt Stemann, sollte endlich auch das Fachpublikum seine Arbeit tun und sich unter dem Nachwuchs umschauen.

Barbora Paluskova

Freitag, 3. Juli, 20 Uhr, Samstag, 4. Juli, 22 Uhr, Kammerspiele