Samba polipoppoetisch

In Brasilien regiert der Samba-Funk – mit sarkastischen Texten, Choreographien zum Mittanzen und dem Humor der Straße. Ausläufer erreichen nun Europa  ■ Von Christiane Gerischer

Für den bislang unbekannten Straßenverkäufer war es der Grundstein einer neuen Karriere. Es geschah auf einem „baile funk“, einer Discoveranstaltung in der Peripherie von Rio de Janeiro, und zwar bei einem Konzert der bekannten Rap-Gruppe MFC (Movimento Funk Clube). „Ah eu to maluco!“ – „ich bin verrückt!“ schrie der 22jährige Jorge Silva de Rocha ins Mikrofon. Zufällig wurde dieser Begeisterungsruf aufgenommen und beim neuen Stück von MFC mit eingespielt. Das neue Lied der bekannten Rapper landete alsbald in den Playlists verschiedener Radiosender – und somit der Freudenschrei von Jorge in der Öffentlichkeit. Fußballfans kürten „Ah eu to maluco“ sogar zu einem neuen Anfeuerungsruf in den Fußballstadien. Bei soviel Popularität wollte der Urheber nicht zurückstehen, er nannte sich MC Maluco und wurde DJ.

Seit den siebziger Jahren gibt es die sogenannten Funkbälle in den Vorstädten der brasilianischen Großstädte. Anfangs versammelten sich dort vornehmlich schwarze Jugendliche, die zu schwarzer US-amerikanischer Musik tanzten. Doch ab Mitte der Achtziger begannen DJs, brasilianische Texte zu singen. Mobile Musikanlagen verwandelten Samstag nachts Fußballstadien und Sporthallen zu Discotheken. Allein in Rio de Janeiro und Umgebung beschallten solche mobilen Anlagen an einem Wochenende bis zu 300 Funk-Discos. Anfang der Neunziger entstand eine große Diskussion über diese mobilen Discotheken, nachdem eine Party an einem Strand von Rio zu einer Massenschlägerei ausgeartet war.

Die Öffentlichkeit erfuhr, daß sich bei einem guten „baile funk“ Jugendliche aus konkurrierenden Vierteln gegenüberstehen und auf ein Signal hin aufeinander losgehen. „Es ist besser, sich in den Clubs zu prügeln, als auf der Straße aufeinander zu schießen“, lautete der Kommentar eines Jugendlichen, und mittlerweile teilen Sozialarbeiter, Psychologen und sogar Lokalpolitiker diese Ansicht.

Längst hat brasilianische Funkmusik die Peripherie verlassen, steht im Zentrum der brasilianischen Popmusik. „Funk“ ist hier allerdings alles, was einen harten Beat hat und entfernt an Funk, Soul, Rap oder HipHop erinnert. Großen Erfolg haben zur Zeit brasilianische Rap-Bands, die sich über die desolaten Lebensbedingungen der Jugendlichen auslassen. Im Gesang der Cariocas, der Rapper aus Rio, ist der Samba unüberhörbar, auch wenn das elektronische Schlagzeug diesen oder jenen Beat stampft. Mittlerweile hat das Duo Claudinho&Buchecha sogar einen „funke romántico“ eingeführt – und erreicht damit Plattenumsätze bis zu einer halben Million.

Schlagzeilen machte in Brasilien auch Gabriel o Pensador – „der Denker“ –, als er zur Zeit der Präsidentschaft von Fernando Collor rappte: „Ich bin glücklich, ich habe den Präsidenten getötet.“ Das Lied wurde verboten – und der Präsident wegen Korruption entlassen. Mit seiner neuen CD „Quebra cabeça“ („Kopfzerbrechen“) hat Gabriel o Pensador erneut Aufsehen erregt. „Telefon 12345sechs78 – ich such' eine Frau für Samstag nacht“ – brasilienweit klagen Besitzer dieser Telefonnummer über Anrufe. Der Song persifliert den brasilianischen Macho. Gleichzeitig ist es ein Kabarettstück über die stereotypen Telefonauskünfte brasilianischer Mütter und Hausmädchen, die auch Brasilienbesucher regelmäßig zur Verzweiflung bringen.

„Pátria que me pariu“ – „Heimat, die mich geboren hat“, der erste Titel dieser jetzt auch in Europa erschienenen CD, ist eine sarkastische Geschichte über das Leben, das einem der vielen Straßenkinder Brasiliens ungewollt geschenkt und letztlich von Todesschwadronen wieder genommen wird. Ob das unzulängliche brasilianische Gesundheitssystem, der Schnaps aus der Dose oder die Angst vor der „verirrten Kugel“ – allein 1996 wurden 90 Personen von sogenannten verirrten Kugeln getötet –, Gabriel o Pensador läßt nichts aus und beschönigt nicht. Der schwarze Humor seiner gruseligen Geschichten erzeugt jedoch eher ein Lächeln als Traurigkeit. Sein Pagode-Samba „Dança do Desempregado“, der „Tanz des Arbeitslosen“, ist eine Persiflage der besonderen Art: Es geht nicht nur um die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, sondern auch um ein musikalisches Genre.

Pagode-Samba aus Salvador da Bahia ist mit Plattenumsätzen in Millionenhöhe die zur Zeit populärste Musik in Brasilien. Pagode bedeutet: immer neue Sambalieder mit anzüglichen Texten und Tänzen. In den Texten werden bestimmte Körperbewegungen beschrieben, die von den TänzerInnen der populärsten Bands im Fernsehen vorgeführt werden. Anschließend werden diese Choreographien landesweit, besonders von Kindern und Jugendlichen, imitiert, aber auch Erwachsene beteiligen sich an diesem neuen Volkssport. Pagode ist nicht nur eine Art Tanzfieber, Pagode ist auch der Schrecken des „guten“ Geschmacks. Die Texte und Choreographien sind eine unendliche Reihe von sexuellen Anspielungen und Phantasien. Auch Gabriel o Pensador beschreibt in seinem „Tanz des Arbeitslosen“ Bewegungen: Der Arbeitslose soll die Hand auf die Börse legen und stellt fest, daß sie leer ist. Er geht immer tiefer und tiefer bis in den tiefsten Süden auf der Suche nach Arbeit. Schließlich muß er die Hände auf den Kopf legen, weil er von der Polizei als Dieb geschnappt wurde. „Das ist der Tanz des Arbeitslosen, wer ihn noch nicht kann, sollte ihn schleunigst lernen.“

Gabriel o Pensador beherrscht einen funkigen Groove, der dank seiner vielen musikalischen Einfälle nie langweilig wird. Mittels Scratching, Bläsersätzen, einem lieblichen Piano oder harter Perkussion entstehen Klangbilder, die seine Erzählungen untermalen. Frauenstimmen, Choreinsätze oder Telefonstimmen erzeugen manchmal die Intensität eines Hörspiels. Auf dem letzten Track geht Gabriel o Pensador ohne Einladung auf ein „Festa da Música“ und trifft dort alle aktuelle Größen der „música popular brasileira“. Es ist eine Hommage an die brasilianische Popmusik, die nicht erst seit Gabriel o Pensador eine besondere, kreative Beziehung zur eigenen Sprache pflegt. Man denke nur an Caetano Veloso, dessen Poesie sogar mit einem neuen Verb, „caetanear“, ausgezeichnet wurden.

Die in Europa bekannteste Protagonistin des Samba Funk ist Fernanda Abreu. In Brasilien steht ihr Name für Dancemusic made in Brazil, ihr neues Album heißt „Raio X“ („Röntgenstrahl“). „Unsere Traditionen kommen vom Mischen“ – verschiedener Kulturen – verkündet sie in ihrem Titelstück. Abreus Funk zitiert brasilianische Klassiker und aktuelle brasilianische Popmusik. Bereits auf dem zweiten Track ist die alte Garde der traditionellen Sambaschule Mangueira zu hören, und mit Carlinhos Brown singt sie ein Lied über Jorge Benjor. „Rio 40 Grad“ hat Fernanda Abreu mit Chico Science und dem unverwechselbaren Mangue Beat von Nação Zumbi eingespielt. Es ist eine der letzten Aufnahmen von Chico Science, der im Februar 1997 tödlich verunglückte. „1997, noch ein Jahr des Pandeiro und der Diskette“, singt Fernanda Abreu. Diesem Motto getreu experimentiert sie nicht nur mit dem Pandeiro, dem Sambainstrument schlechthin, sondern auch mit den Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung und Grooves. „Erst wenn Onkel Sam ein Tamburin in die Hand nimmt, werde ich Bebop in meinen Samba tun“, singt sie in „Jack Soul“, der Hommage des Gitarristen Lenine an den berühmten Sambista Jackson o Pandeiro. Mit „Raio X“ hat Fernanda Abreu mehr Dance und mehr Brazil gewagt denn je.

Fast noch eine Neuentdeckung der brasilianischen Funkszene ist die Sängerin Daúde. 1996 kam sie mit ihrem ersten Album prompt auf Platz 3 der europäischen Worldmusic Charts. Das neue Album heißt „Daúde 2“. Geboren wurde Daúde in Bahia, aber seit ihrem 11. Lebensjahr lebt sie in Rio de Janeiro. Daúde singt nicht nur Samba-Funk, sondern auch Lieder aus dem brasilianischen Nordosten, und neben Drum'n'Bass (!) swingt hier und da baianischer Axé mit. Allerdings ist die CD eindeutig für internationale Dancefloors produziert. Keine Samba-Batucadas, sondern die elektronischen Grooves des baiano-argentinischen Perkussionisten Ramiro Mussoto kennzeichnen die meisten Stücke. Nur die „Convidados“ – die singenden Gäste – vermitteln Straßenatmosphäre.

Geradezu hitverdächtig ist die neue Version des berühmten „Pata Pata“ von Miriam Makeba, die Daúde gemeinsam mit Carlinhos Brown eingespielt hat. Der traditionelle Coco „Casa Caiada“ wird bei Daúde zu einem Popsong, der nach karibischem Zouk und dem Karneval von Salvador da Bahia klingt. Außerdem präsentiert Daúde „neue“, in Brasilien bislang unbekannte Liedermacher, wie in „Afroolodummultimedia“, dem Opener der neuen CD, der den Afrokommerz karikiert. Ohne Humor geht auch hier nichts, sei es in „As Baratas“, ein Lied über Kakerlaken, oder „Sarambá“, das in einer Reihe vieldeutiger, erfundener Begriffe endet: Samba bleibt „...estrabonático, palipopético, cibalenitico, antropofágico“. Was etwa heißt: „...extraschöntoll, polipoppoetisch, cyberhip und kannibalistisch.“

Letzteres ist ein Begriff, mit dem sich die brasilianische populäre Musik schon lange selbst kennzeichnet. Gemeint ist der unbekümmerte Umgang mit Musik, egal ob sie aus dem trockenen Sertão, dem Dickicht der Städte oder modernen Studios in London kommt. Im dreißigsten Jahr der Tropicália – solange ist es her, daß Gilberto Gil, Caetano Veloso, Gal Costa und andere anfingen, internationalen Pop brasilianischer Prägung zu machen – ist die neue Generation nämlich in jeder Hinsicht auf dem laufenden.

Tourdaten: Fernada Abreu, 5.7. Tübingen Festival; Daúde: Tour Juli/August, u.a. 30.7. Hamburg, Fabrik, 1.8. Nürnberg, Badenfestival