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Faustschläge in Deutsch-Rio

Im Stuttgarter Problemviertel Raitelsberg gibt es viele hartgesottene Kids, eine grüne Wunderinsel und einen Sozialarbeiter, der sich abmüht  ■ Von Christian Litz (Text) und Jochen Klenk (Fotos)

Nett hier. Idyllisch. Sieht aus, wie man sich Bullerbü vorstellt. Grüne Tannen, grüne Eichen, viele Büsche. Es riecht nach Natur, nach Erde und nach Heu. Da drüben zwei Ziegen, die Heu fressen. Hier ein paar Hasen, die durch die Maschengitter der Ställe schauen. Dazu Bretterhütten, sieben, acht Stück, verschieden groß, von Kindern selbst gezimmert. Noch ein Holzpferd, zwei Meter groß. Eine Schaukel mit einer sechs Quadratmeter großen Holzplatte. Eine Halfpipe voller Grafitti. Und viele Bretterstapel. Ein Kindertraumland, dieser Aktivspielplatz in Stuttgart- Raitelsberg.

Es ist 13 Uhr. Die Schule ist aus. Oben am Hang tauchen die auf, die noch fehlen, um dieses Astrid- Lindgren-Paradies perfekt zu machen: die Kinder. Sie rutschen und klettern den steilen Hang hinunter, laufen eilig über schwarze Erde, durch die vielen Bäumen, hinab zum Spielplatz.

Das Stuttgarter Viertel Raitelsberg. Eine Arbeitergegend mit Tradition und Stolz. Obwohl? Das mit dem Stolz, das war einmal. Der Raitelsberg oben auf dem Hügel, auch Rio genannt, ist schon lange ganz unten. Der Raitelsberg, das sind zu 90 Prozent Sozialwohnungen. Viele Kinder, viele überforderte Mütter, wenig Väter, Drogen, Alkohol und viele Satellitenschüsseln. 80 Prozent der Kinder haben ausländische Eltern, die Umgangssprache ist trotzdem Deutsch, weil die Mischung der Nationalitäten wahllos ist. Alle Häuser sind gleich: drei Stockwerke, darüber, unterm Dach, eine Etage mit Nasenfenstern. Die Straßen sind so lang wie die Häuserblocks, dann kommt gleich die nächste Querstraße. Am besten läßt sich der Raitelsberg mit dem Wort Kasernenviertel umschreiben. Um exakt zu sein: schäbiges Kasernenviertel.

Mittagszeit. Frieder Buyer, Sozialarbeiter und Betreuer, steht auf dem Aktivspielplatz und spricht über die kreischenden Kleinen, die sich wie eine Wolke den Hang hinabschieben. „Der da vorne, dessen Vater ist an Alk gestorben. Seine Mutter hat wieder einen Alki. Typische Ko-Alkoholikerin. Und der da, der mit dem Trainingsanzug, da sind neun Kinder zu Hause. Der Vater Tunesier, die Mutter Deutsche, die hatte mal eine Bewährungsstrafe wegen Kindesmißhandlung bekommen. Und der da, der im Chapuisat-Trikot ist zwölf. Die Mutter ist psychisch krank. Der Junge hat auch eine zweijährige Therapie hinter sich.“

Das war's dann wohl mit Happy- Kinder-Traumland Bullerbü.

Jetzt, jetzt wird es richtig ernst. Die „kleinen Monster“ sind auf dem Aktivspielplatz angekommen. „Der da, der war vor kurzem besoffen hier“, sagt Frieder. „Wie alt?“ „13. Knapp 13.“ Einer, auch 13, wird pampig: „Hey, was machst du mich an?“ schreit er einen kleinen Jungen an, der einfach nur an ihm vorbeigehen wollte. Frieder sagt: „Wenn du das siehst, mußt du ihn dir am Monatsende vorstellen. Seine Mutter ist süchtig, die Familie lebt von Sozialhilfe. Jeden Monat kommt der Tag, an dem nichts mehr zu essen da ist. Dann geht der Kleine einen Stock höher zu einem besoffenen Rentner und bettelt um Brot für seine Geschwister, für seine Mutter und für sich.“ Die Auftritte hier, sagt Frieder, brauche er als Ausgleich.

Frieder Buyer erzählt von einer Mutter mit vier Kindern. „Die sitzt den ganzen Tag auf der Couch. Den ganzen!“ Die Kinder machen den Rest, der älteste Junge ist gerade mal zwölf. „Wir wollen bald einen Kochkurs anbieten, damit sie lernen, billig und gesund zu kochen.“ Denn einige, sagt Frieder, leben nur von Pommes. Oben auf dem Hügel im Rio, ist der Imbißstand „Natalia Gyros.“

Die Kinder sind in das große Haus auf dem Spielplatz gestürmt. Das Aki-Haus, nach dem Aktivspielplatz benannt, hat der Trägerverein des Spielplatzes vor Jahren mit Zuschüssen der Stadt gebaut. Frieder Buyer arbeitet hier seit 21 Jahren als Sozialarbeiter. Er ist nett und engagiert, manchmal auch streng, aber mit pädagogischem Geschick – Grenzen erfahren, heißt das. Wenn beispielsweise der Zehnjährige drohend auf ihn zugeht und schreit: „Verpiß dich, du Wichser!“ Dann packt Frieder ihn am Kragen und droht: „So redest du nicht mit mir!“

Was Frieder erzählt über seine Schar, ist nicht zynisch gemeint. Es sind Fakten, es ist die Realität hier in der Stuttgarter Gegend. Daß es bei anderen als Zynismus ankommt, ist ein Wahrnehmungsproblem. Frieder Buyer sagt: „Es läuft hier alles sehr direkt ab. Mit dem Ellebogen oder mit der Faust. Über Probleme reden, das gibt es hier nicht.“

Frieder Buyer bemüht sich, das Gute zu betonen. Währenddessen schießt ein Zehnjähriger im Aki- Haus einen Ball mit aller Macht einem etwas kleineren genau auf die Wange. Ein lautes, sattes Klatschen ist zu hören. Der Kleine schreit: „Spinnst du?“ und heult los. Auf seiner Wange ist ein roter Abdruck. Der andere geht hin, legt ihm die Hand liebevoll auf die Schulter und sagt: „Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen.“ Frieder sagt leise: „Oh, klasse.“

Siedlung Stuttgart-Raitelsberg. Von fast jedem Punkt hier oben ist der riesige Gaskessel unten im Neckartal zu sehen; zu hören sind die Autos auf der sechsspurigen Bundesstraße, die sich nur 100 Meter vom Spielplatz entfernt entlangschleicht. Auf dem Spielplatz selbst bekommt man wenig mit von dem Lärm. Der Lärm geht nach oben weg. Oben ist Rio, unten ist die Straße, drumherum ist eine Industriebrache – diese Umgebung macht den Aktivspielplatz zu einer grünen Wunderinsel.

Das Herz des Spielplatzes der Tramporaum, ein mit Matten ausgelegtes Turnzimmer, im Aki- Haus. Ein großes Trampolin steht darin. Sind Kinder da, schlägt das Herz ohne Pause, regelmäßig und laut. Hier kriegen alle Kids ihr Erfolgserlebnis: ein Sprung zwei Meter in die Luft oder ein Salto. Selbst der dicke Zehnjährige ist wer auf dem Trampo. Um den Andrang auf dieses pädagogische Wunderding zu steuern, führt einer der Erwachsenen penibel Liste. Die Liste legt fest, wer wann springen darf. Draußen dagegen, auf dem Spielplatz, zählt nur die Hackordnung, die Survival-of-the-fittest-Kinderauslese mit Faustschägen auf die Nase oder Tritten in den Magen. Einige der Kids haben sich jetzt Hämmer ausgeliehen, gegen Pfand. Einer gab eine Mark, einer einen Pullover, zwei gaben ihre Jacken. „Das muß einfach sein, das Pfand“, sagt Frieder Buyer. Die Kids hämmern an den Holzhütten herum.

Thomas, 8, geht ins Aki-Haus, die Wendeltreppe hoch, in den Kuschelraum. „Thomas hat den Schlüssel für oben“, erklärt Zivildienstleistender Till. Den Schlüssel für den Kuschelraum haben, das ist ein Privileg. Thomas hat 13 Geschwister – oder 14. Also bekommt er möglichst oft den Schlüssel für den kleinen Ruheraum, der ausgelegt ist mit zwei Matratzen und vielen Kissen. Warum Thomas auf der sozialen Leiter so weit oben steht? „Der kann sich durchsetzen“, sagt Frieder. Doch das heißt nicht viel, wie die Geschichte von Hacker zeigt.

Hacker ist ein Spitzname, genausogut könnte der Junge Klopper oder Schläger heißen. „Der war ein Bär, groß, kräftig und absolut brutal, alle haben vor ihm gekuscht. Der kam und hat zur Begrüßung irgendeinem die Faust auf die Nase gesetzt. Irgendeinem, einfach so. Jeden Tag Blut. Hacker war hier ,King of the ring‘“, sagt Fieder Buyer. Hacker war der King. Jetzt ist er 14 und darf nicht mehr auf den Altivspielplatz. Jetzt ist Hacker ein Loser.

Hackers Autorität ging flöten, als er eine Abschiedsparty mit organisierte. Frieder sagt: „Die Cliquen kriegen das Haus von uns für ihre Abschiedsparty. Die müssen sie selbst organisieren. Das ist hart für die. Geld muß vorgestreckt werden. Wer kauft ein? Wer besorgt einen Stempel für den Eintritt? Und so weiter. Oft sind sie da überfordert.“ Überfordert war vor allem Hacker. Null Leistung bei der Organisation. So richtig ernst nahm Hacker keiner mehr. Zumal er bei der Party noch besoffen einschlief.

Alkohol ist kaum noch ein Thema bei den Jugendlichen im Rio. Betrunkene Kinder sind heute Einzelfälle. Vor zehn Jahren war das noch anders. Da ging das Saufen los mit 14. Inzwischen hat Hasch dem Alk den Rang abgelaufen. „Du kannst mit einem Suff hier in der Gegend nicht mehr angeben, nicht mal mehr vor den Kleinen“, sagt Frieder.

Seit fast 22 Jahren gibt es den Aktivspielplatz in Stuttgart-Raitelsberg. Die Betreuer und die Mitglieder des gemeinnützigen Trägervereins haben viel Zeit zum Lernen gehabt. Das Aki-Haus hat inzwischen Panzerglas in den Fenstern. Im Glas sind kleine Punkte, sie wirken wie Einschußlöcher. Sieht aus, wie Häuser auf Fotos aus Sarajevo aussehen. Am Aki-Haus müssen es Steineinschläge gewesen sein. Auch die Fenster der Doppelflügeltür sind gesprungen. Schon zum fünften oder sechsten Mal in diesem Jahr ist das passiert. In der Doppelflügeltür ist kein Panzerglas drin, nur Sicherheitsglas. Panzerglas würde die Türen zu schwer machen.

Frieder Buyer muß weg, eine Schlägerei beenden. Wenn Große Kleine prügeln, müssen die Erwachsenen einschreiten. Wenn sich Gleichaltrige prügeln, greifen die Pädagogen nicht ein. Gleichaltrige dürfen ihre Rangliste mit Faustschlägen festlegen. Kraft ist entscheidend für die soziale Stellung in Raitelsberg.

Kann man sich auch anders hocharbeiten? „Ja, seit kurzem“, sagt Frieder. „Wir haben hier die Kinder der Familie Eisele. Das ist eine komplette Familie, mit Vater und Mutter. Die Eiseles sind etwas Besonderes. Wenn die Eisele-Kinder dich nach Hause einladen, ist das die größtmögliche Belohnung hier. Dann steigt die Wertigkeit.“

Aber Eiseles sind weggezogen aus dem Rio. Eine Woche war ihnen genug. Eine Woche? „Ja“, sagt Frieder Buyer, „Familie Eisele hat exakt eine Woche hier gelebt.“ Dabei waren die Voraussetzungen nicht mal schlecht.

Manfred Eisele, 38, ist im Rio aufgewachsen, mit Bruder und Schwester in einer Dreizimmerwohnung, 54 Quadratmeter. „Es war nie heile Welt hier. Es herrschte ein rauher Ton. Aber es war in Ordnung.“ Nach 22 Jahren war er nun vor kurzem zurück ins Rio gekommen, in eine 62-Quadratmeter-Wohnung, weil er voller Nostalgie war und sich immer wieder sagte: „Hier bin ich doch verwurzelt.“ Doch schon nach einer Woche hat Manfred Eisele feststellt: „Es ist anders geworden im Rio. Es gibt keine Familien mehr. Es ist zu laut. Es gibt zuviel Ärger mit den Nachbarn. Zuviel...“ Manfred Eisele faßt das alles mit den Worten zusammen: „Ich kann im Rio nicht mehr wohnen. Alles ist irgendwie komisch geworden.“ Die nostalgischen Gefühle des Manfred Eisele, Hausmeister einer Versicherung, waren schnell verflogen. Inzwischen wohnt er mit Frau, Sohn und Tochter in einer Firmenwohnung in der besseren Stuttgarter Innenstadt, „104 Quadratmeter, zwei Gartenterrassen, Parkett, sehr ruhig“.

Und trotzdem: Manfred Eisele bringt noch immer tagtäglich seine Kinder auf den Aktivspielplatz am Raitelsberg – „aus Tradition eben“, wie er sagt.

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