Zwischen Straße und Zuhause

In der Krisenunterkunft BuK in Prenzlauer Berg finden Straßenkinder mehr als nur ein Bett. SozialarbeiterInnen berufen „Helferkonferenzen“ zur Lösung ihrer Probleme ein. Doch die Zukunft des Projektes ist ungewiß  ■ Von Kirsten Küppers

Die Hunde toben bellend um den Tisch. Katja* hat roten Tönungsschaum im Haar und bestreut ihre Spaghetti mit Zucker. „Wir sind keine Linken, wir sind keine Rechten, wir sind normal“, kräht sie. Die anderen kichern. Im gelb gestrichenen Gemeinschaftsraum der Krisenunterkunft für Jugendliche herrscht gute Stimmung.

Bis zu zehn Nächte können Straßenkinder zwischen 14 und 18 Jahren in der Einrichtung „Beratung und Krisenunterkunft“ (BuK) in der Schönhauser Allee verbringen. Dort gibt es in fünf bemalten Zimmern acht Betten. Auf einem Nachttischchen steht ein Rattenkäfig.

Obdachlose Jugendliche können hier – im Unterschied zu anderen Notunterkünften – duschen, Wäsche waschen, warmes Essen bekommen und ein wenig WG- Alltag leben. Überdies stehen ihnen fünf SozialarbeiterInnen zur Verfügung, die die Jugendlichen beraten. Zunächst lassen sie die Jugendlichen aber in Ruhe. Sie geben ihnen am Anfang nur Bettwäsche und eine warme Mahlzeit.

Entstanden ist das Projekt im Zuge der Legalisierung der besetzten Häuser in Ostberlin. „Als viele Schmuddelkinder und Punks immer weitergeschoben wurden“, erzählt die Sozialarbeiterin Conny Kirchgeorg-Berg. Um diesen Jugendlichen zumindest für eine Übergangszeit einen Unterschlupf zu bieten, hat der gemeinnützige Träger Pfefferwerk im August vergangenen Jahres die Krisenunterkunft eingerichtet.

Morgens müssen die Jugendlichen nach dem gemeinsamen Frühstück das Haus verlassen. „Ich mach' die Tür auf und setz' einen Fuß vor den andern, ich plane nicht“, beschreibt der 17jährige Dolyt seinen Tag. Erst ab halb acht abends ist die Notunterkunft wieder offen und es gibt Abendessen.

80 Prozent der Jugendlichen, die hier übernachten, sagt die Sozialarbeiterin Conny Kirchgeorg- Berg, wollen nach kurzer Zeit von der Straße weg. Dann helfe ihnen das Team bei Schwierigkeiten mit Polizei, Eltern und Ämtern. Die MtarbeiterInnen berufen eine sogenannte „Helferkonferenz“ mit Eltern, Kind und VertreterInnen der betroffenen Behörden ein. Dann beginnt die Suche nach längerfristigen Wohnmöglichkeiten für die Straßenkinder.

Der 20jährige Matze, der mit den anderen am Küchentisch sitzt, landete im vergangenen Herbst bei BuK. Nach einer langen „Karriere“ bei Drückerkolonnen, Notunterkünften und Jugendämtern in ganz Deutschland hatte eine Freundin ihm von der Notunterkunft in Prenzlauer Berg erzählt. Die ProjektmitarbeiterInnen besorgten ihm einen Platz in einer betreuten WG für junge Schwule. Jetzt besucht er auch eine Erzieherschule. Als Dankeschön hat er vergangenes Jahr zu Weihnachten Gans, Rotkohl und Klöße für die Krisenunterkunft gekocht.

Die meisten Gäste der Einrichtung stammen aus verkrachten Elternhäusern, haben bereits Heimerfahrungen hinter sich oder sind von zu Hause ausgerissen. Viele seien aus kleinen Käffern nach Berlin gekommen, und wollten nicht mehr aus der Stadt weg, erzählt Conny Kirchgeorg-Berg. Das Geld zum Überleben verdienen sich die Jugendlichen mit Schnorren, dem Verkauf von Zeitungen oder Prostitution. Alkohol und Drogen sind ein großes Problem. „Die Kids nehmen Speed, Koks oder alles, was sie kriegen können“, so die Sozialarbeiterin weiter.

Claudia im Ringelhemd ist stolz auf sich. Seit sie sich um „Socke“ kümmert, die Schäferhündin mit dem roten Halstuch, trinkt sie keinen Alkohol mehr. Mit den anderen am U-Bahnhof Schönhauser Allee schnorren zu gehen, sei jetzt aber langweiliger. Zu ihren KlassenkameradInnen aus Lichtenberg hat sie schon lange keinen Kontakt mehr. „Die, die noch mit Mami und Papi sind, sind so arrogant“, findet sie.

Sowohl die Jugendlichen als auch die Mitarbeiter sind überrascht, wie erstaunlich gut das Miteinander der Straßenkinder in der Notunterkunft funktioniert. Zwar gebe es „immer mal Punks, die Sachen durch die Gegend schmeißen“, erzählt Matze. Aber nur wer das Drogen- oder Gewaltverbot mißachtet, fliege raus. Als rechte Jugendliche die anderen mit lautem Gedröhne von „Störkraft“ und den „Böhsen Onkelz“ nervten, mußten sie die Musik leiser drehen. Das war's dann. Auch mit Hunden und Ratten gibt es keine Probleme. Ihre Tiere dürfen die Straßenkinder mitbringen. „Einmal waren acht Ratten da“, erinnert sich Conny Kirchgeorg- Berg und schüttelt lachend den Kopf.

Vor wenigen Tagen ist die Schweizerin Janine wieder aufgetaucht. Mit einem Wochenendticket sind die 16jährige und ihre Dobermannhündin nach Berlin gereist. Jetzt sitzt sie im Dead- Kennedys-T-Shirt am Tisch, nippt an einem Orangensaft und kratzt sich am Arm. Conny Kirchgeorg- Berg untersucht das Mädchen mit Kennerblick. „Krätze“, stellt sie fest. Janine soll am nächsten Tag zur Hautärztin. Krankheiten wie „Schlepperseuche“, Krätze, Exzeme oder Lungenentzündung haben viele Jugendliche, die auf der Straße leben.

Bisher wird die Einrichtung vom Bezirksamt Prenzlauer Berg finanziert. BuK ist mit 600.000 Mark im Jahr die teuerste Jugendeinrichtung des Bezirks. Und die Zukunft ist ungewiß. Bisher sind die Gelder für das zweite Jahr noch nicht bewilligt worden. Das Projekt sucht bereits nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten. „Eine Einrichtung für Obdachlose zu schließen, das traut sich der Bezirk nicht“, mutmaßt Conny Kirchgeorg-Berg.

Auch Nicole, ein zierliches Mädchen mit großer Brille, macht sich Sorgen um die Zukunft. „Ich will hier nicht mehr weg“, sagt sie. Stolz führt sie den anderen ein pinkfarbenes ärmelloses Oberteil vor, das sie in der Kleiderkammer gefunden hat. Sie und Katja wollen noch ausgehen. „Ciao, Babies!“ brüllen sie und verschwinden im Flur.

* Name geändert