„Der Dolch in unserem Rücken“

Cem Özdemir, Bundestagsabgeordneter der Grünen, ist in den letzten Jahren immer wieder ins Kreuzfeuer von Hürriyet, der einflußreichsten türkischsprachigen Tageszeitung in Deutschland, geraten. Bereits vor Jahren wurde er von dem Hürriyet-Chefideologen Ertug Karakullukcu als „Dolch in unserem Rücken“ beschimpft. Die jüngste Kampagne erhitzte sich an Cem Özdemirs Aussagen zu Integrations- und Identitätsproblemen von Deutschland-Türken auf einer Diskussion der französischen Alevitenvereinigung. Er waf den Deutschtürken mangelnde Selbstkritik und Türkeifixiertheit vor. Mit Cem Özdemir sprach  ■ Eberhard Seidel-Pielen

Sie werden in regelmäßigen Abständen von „Hürriyet“ attackiert. Was sind die Hintergründe?

Cem Özdemir: Sowohl Hürriyet als auch die Falken in Ankara wissen, daß ich für das Modell Bürger erster Klasse und für das Modell Integration ohne Zwangsassimilation in Deutschland stehe. Sie dagegen verfolgen das Konzept der osmanischen Balkanpolitik des vorigen Jahrhunderts, der Installation einer türkischen Minderheit im Ausland, die per Fernbedienung in Stellung gebracht werden kann.

In den „Hürriyet“-Kommentaren wird Ihnen vorgeworfen, Sie würden die Gemeinschaft der Türken nicht kennen, die traditionellen sozialen politischen Werte der Türken mißachten. Welche Ideologie steckt hinter Vorwürfen wie diesen?

Die nationalistische Ideologie – eine Sprache, ein Volk und eine Religion, besser Konfession und zwar die sunnitische. Diese Ideologie versucht man unter den in Deutschland lebenden Türken durchzusetzen. Da erfüllt die Europaausgabe von Hürriyet, aber auch andere türkischsprachige Zeitungen, quasi einen Auftrag, dem ich im Weg stehe.

Inwiefern?

Ich sage, es gibt in Deutschland Menschen aus der Türkei mit unterschiedlicher Konfession und unterschiedlicher Ethnie. Ich will mit dieser Feststellung nicht separieren, sondern lediglich, daß alle als gleichberechtigte Teile des anatolischen Mosaiks anerkannt werden.

Das Modell „eine Religion, ein Volk, eine Sprache“ ist nicht so weit von Positionen entfernt, die von rechten deutschen Kreisen vertreten werden. Sind diese auf Homogenität hinzielenden Konzepte nicht höchst problematisch für eine heterogene Einwanderungsgesellschaft, wie sie die Bundesrepublik ist?

Im Grunde genommen haben die rechten deutschen Politiker, die nun vor den Problemen – die wir zweifelsohne in der multikulturellen Gesellschaft haben – warnen, diese maßgeblich mit verursacht. Dreißig, vierzig Jahre lang haben sie Menschen, die längst zu Inländern geworden sind, zu Ausländern abgestempelt. Sie haben damit eine ganze Generation ideologisch nach Ankara geschickt. Jetzt, wo sie merken, welchen Scherbenhaufen sie angerichtet haben, warnen sie pharisäerhaft vor diesen Entwicklungen.

Was müßte geschehen, um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen?

Wenn man nicht will, daß sich die Leute weiterhin Richtung Ankara orientieren, müssen verbesserte Integrationsangebote gemacht werden, ohne daß man sie zur Assimilation zwingt.

Konkreter bitte.

Wir brauchen ein neues Staatsangehörigkeitsrecht. Aber das verweigern die Rechten und werden so zum Modernisierungsrisiko. Wir müssen uns aber auch der Frage widmen, wie wir künftig mit den Muttersprachen umgehen – sprich den muttersprachlichen Angeboten in der Schule und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Schließlich müssen wir uns entscheiden, ob wir das Monopol in Religionsfragen weiterhin Teheran, Riad, Kairo und Ankara überlassen. Wir müssen endlich akzeptieren, daß ein deutscher oder europäischer Islam entsteht und auch dringend entstehen muß.

Welche Rückwirkung hat die polarisierende Berichterstattung von „Hürriyet“ auf die Deutschtürken?

Es entwickeln sich kommunikative Parallelwelten mit separaten Tagesordnungen. Wenn ich lese, welche Persönlichkeiten da auftauchen, welche Vereine – die kennt niemand in Deutschland. Wer sich ausschließlich aus der türkischsprachigen Presse über Deutschland informiert, der bekommt ein sehr verzerrtes Deutschlandbild. Es wird alles durch die Brille Ankaras betrachtet. Entscheidend ist zunehmend die Frage, wie steht die Person X und die Partei Y zu Ankara. Die Fragen der bundesrepublikanischen Gesellschaft rücken immer mehr in den Hintergrund.

„Hürriyet“ mobilisiert Emotionen und Ressentiments der Leser. Bekommen Sie entsprechend aggressive Reaktionen?

Ich bekomme natürlich immer wieder „Fanpost“ aus der nationalistischen Ecke, in der – sagen wir – eine deftige Sprache gesprochen wird. Die bundesdeutsche Gesellschaft muß sich überlegen, ob sie diese Art von Journalismus, der bestehende Brücken abreißt, möchte. Ich habe das Gefühl, daß viele denken, es handele sich hier um eine Art Privatauseinandersetzung zwischen mir und Hürriyet und anderen. Das ist es aber nicht, es geht um zwei konkurrierende Modelle. Die Bundesrepublik müßte ein vitales Interesse haben, daß sich mein Modell durchsetzt.

Was könnte in diesem Konflikt von deutscher Seite aus getan werden?

Es muß endlich verstanden werden, daß es sich bei Zeitungen wie Hürriyet nicht mehr um ausländische Tageszeitungen handelt, sondern um bundesdeutsche in türkischer Sprache. Es ist absurd, wenn im Pressespiegel des deutschen Bundestages zwar die Washington Post und die New York Times ausgewertet werden, nicht aber türkischsprachige Zeitungen, die in Deutschland für den deutschen Markt für zunehmend deutsche Staatsbürger produziert werden.

Kümmert sich der Presserat aureichend um die türkischsprachige Presse?

Man muß Zeitungen wie Hürriyet – ähnliches gilt aber auch für Zeitungen wie die islamistische Milli Gazete oder den PKK- nahen Fernsehsender Med-TV – auch mal auf die Finger klopfen, wenn sie in ihrer Propaganda zu weit gehen. Das machen wir mit bundesdeutschen Zeitungen auch. Falsche Rücksichtnahme ist da nicht angesagt. Aus Gründen der Fairneß muß man auch sagen, daß siebzig, achtzig Prozent der Mitarbeiter von Hürriyet um einen seriösen Journalismus bemüht sind, das ändert allerdings nichts am Problem, daß die politische Linie aus Ankara vorgegeben wird. Grundsätzlich muß die türkische Community in Deutschland die Diskussion führen, die Zafer Senocak in der taz eröffnet hat: Er fordert, daß wir uns aus der Umklammerung Ankaras lösen, indem wir in Deutschland versuchen, unsere Interessen unabhängig von Ankara zu formulieren.

Das scheint allerdings ein recht mühsamer Prozeß zu sein.

Da wir für diesen Diskussionsprozeß weder die geeignete Zeitung noch das Fernsehen haben, brauchen wir dafür bundesdeutsche Unterstützung. Wir brauchen dafür dringend Foren wie die Intertaz auch in anderen Zeitungen, weil auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit diese Diskussion nur verzerrt mitbekommt, nur auszugsweise, wenn das deutsch-türkische Verhältnis wieder einmal gespannt ist. Das ist zu wenig.