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„1.000 Kinder werden jährlich toterzogen“

■ betr.: „Straffällige Kinder ins Heim“, taz vom 6. 7. 98

Die Reaktionen auf jugendliche Straftäter sind jedes Mal dieselben: Von rechts wird Law and Order gefordert, von links Ausbildungsplätze und Zukunftsperspektiven. Der Rechtsstaat fühlt sich jedenfalls erst zuständig, wenn die Strafmündigkeit oder Geschäftsfähigkeit erreicht sind. Doch bevor ein Straftäter seine Karriere beginnt, haben schon etliche Straftaten stattgefunden, deren Opfer er war.

Kinder leben, was ihre Stellung in der Familie betrifft, von grobem Mißbrauch abgesehen, faktisch in einem rechtsfreien Raum. Unter dem Etikett Erziehung finden tagtäglich tausendfach Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsentzug statt, sie heißen hier Ohrfeige, Hausarrest, Klaps usw. 1.000 Kinder werden jährlich toterzogen (Zeit vom 10. 12. 93). Zu lesen ist über diese alltägliche Gewalt selten, die Perspektive ganz auf die idealisierten Eltern gerichtet. So sagt Herta Däubler-Gmelin, daß Kinder in Heime gehören, mit denen die Eltern nicht fertig werden, und niemand wundert sich. Tatsächlich sind die Heime voll mit Kindern, die mit ihren Eltern und deren Schlägen nicht fertig werden. Solange Claudia Nolte und Roman Herzog noch den kleinen Klaps auf den Po propagieren können, muß nicht die Straffähigkeit, sondern die Opferfähigkeit dringend herabgesetzt werden. Daniel Soll, Marburg

[...] Diese derzeit höchst populäre Forderung verkennt, daß damit an den Symptomen, nicht aber an den Ursachen angesetzt wird. Die soziale Erosion in unserer Gesellschaft ist das eigentliche Problem, dem nun mit juristischen Mitteln begegnet werden soll. Dieser falsche Weg zeigt sich nicht nur bei der Jugendkriminalität, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen: Wenn das Bewußtsein schwindet, daß Eigentum verpflichtet, und immer mehr BürgerInnen Steuervermeidung und -hinterziehung praktizieren, dann nutzt eine schärfere Steuergesetzgebung wenig. Fahrerflucht wird hoch bestraft, trotzdem machen sich immer mehr Unfallverursacher aus dem Staube. Unterlassene Hilfeleistung und schaulustiges Gegaffe bei Verbrechen und Unfällen sind zwar strafbar, aber wer kümmert sich darum? Diese Liste ließe sich fortsetzen und zeigt, daß das soziale Gefüge bei uns immer mehr auseinanderfällt. [...]

Notwendig wäre demgegenüber eine Politik, die soziale Verantwortung und Gemeinsinn in den Mittelpunkt stellt. Dazu gehört beispielsweise eine Sozialpolitik, die diesen Namen verdient und verhindert, daß Millionen Kinder von Sozialhilfe leben müssen. Hierzu gehört eine Familienpolitik, die Mütter und Väter mit familiären Problemen nicht allein läßt, sondern wirksame und rasche Hilfe anbietet. Dazu gehört eine Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Problem begreift, dessen Auswirkung eine weitreichende Perspektivlosigkeit bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern zur Folge hat. Dazu gehört eine Wirtschaftspolitik, die nicht denjenigen Unternehmen Beifall klatscht, die mit flexiblen Arbeitszeitforderungen erziehende Mütter und Väter benachteiligt, sondern diejenigen belohnt, die kinderfreundliche Arbeitszeitmodelle entwickeln.

Das eigentliche Problem ist nicht die Jugendkriminalität, sondern die soziale Erosion, die mit der derzeitigen Politik eher gefördert als verhindert wird. Peter Wolters, Peine

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