Kleiner Traum am Fluß

Helga und Herbert Kalläne bauen ihr neues Haus neben dem alten in Kunitzer Loose, das voriges Jahr von der Oder überflutet war  ■ Von Jens Rübsam

Jetzt ist wieder hinter ihm das Stöhnen des Krans zu hören und das Kreischen der Bohrmaschinen; jetzt vernimmt er wieder die Stimmen der Männer, die sich auf seinem Hof zu schaffen machen: auf dem Dach des alten Hauses, von dem die Dachsteine abgenommen werden, auf dem Dach des neuen Hauses, das mit den Dachsteinen neu gedeckt wird, und im Keller des neuen Hauses, wo ununterbrochen Bohrmaschinen in die Wand gedrückt werden. Herbert Kalläne steht vorn am Gartenzaun, die Arme auf das Metalltor gestützt. Er blickt hinüber zur Oder, 300 Meter vor seinem Hof führt der Fluß schon wieder Wasser in beängstigender Höhe. Es hat in den vergangenen Tagen stark geregnet. „Wir wollen“, sagt Herbert Kalläne an diesem trüben Sommertag – die Handwerker haben nach der Mittagspause gerade wieder angefangen zu arbeiten –, „wir wollen im Herbst in das neue Haus ziehen“. Ganz wohl ist ihm bei diesem Gedanken nicht.

Am 23. Juli vor einem Jahr war der Deich bei Brieskow-Finkenheerd, südlich von Frankfurt (Oder), geborsten. An den 17 Häusern in Kunitzer Loose stand das Wasser bis zur Dachrinne, am Haus von Herbert und Helga Kalläne genau 2,60 Meter hoch. Die Oder hat an den Häusern eine schmutzigbraune Linie gezogen, sie ist noch zu sehen. Schon Tage nach der Flut sagten Gutachter des Landkreises Oder-Spree: Kallänes Haus müsse abgerissen werden, eine Sanierung würde zu teuer. In zehn weiteren Fällen kamen sie zu demselben Ergebnis.

Noch steht Kallänes altes Häuschen am Ortseingang, 1946 gebaut, aus Sand und Lehm, „was anderes gab es damals nicht“. Noch wohnen sie darin, oben unterm Dach, ein Zimmer für sie, ein Zimmer für Heiko, ihren Sohn. Wohin hätten sie auch ziehen sollen? Zu Tochter Monika nach Markendorf? Wieder in den kleinen Partykeller? Wohin sie geflüchtet waren, nachdem der Deich gebrochen und die 60 Quadratmeter große Ziltendorfer Niederung zum Schwimmbecken geworden war? Nein, bei den Kindern wollten sie nicht bleiben. „Das können wir ihnen nicht zumuten“, haben Kallänes gesagt und sich entschlossen, neu anzufangen. In Kunitzer Loose bleiben wollten sie damals nicht.

Vorher war Herbert Kalläne bekannt geworden, weil er sich im Hochwasser-Juli bis zum Schluß geweigert hatte, sein Haus in Kunitzer Loose zu verlassen: „Ich kenne doch meine Oder. Ich bin einer aus dem Oderbruch. Ich bin doch den Deich abgelaufen. Der bricht nicht.“ Das hatte er den Leuten von den Behörden zugerufen, als die schon die Evakuierung angeordnet hatten. Bis zur letzten Minute war Kalläne unter dem Dach seines Hauses geblieben. Hatte sich ein Schlauchboot besorgt, ein Notstromaggregat, einen Kasten Bier, fünf Kilo Katzenfutter. „Ich überlasse mein Haus nicht dem Wasser“, sagte er immer wieder zu seiner Frau. „In unserem Alter muß man doch zusammenbleiben“, sagte seine Frau, die weg wollte, unter Tränen zu ihm. Schließlich gab er nach.

Jetzt wächst ein neues Haus an der Dorfstraße 1, gleich neben dem alten. Höher, weil mit einem richtigen Keller zu ebener Erde versehen. Schöner, weil jemand, der neu baut, schöner baut. Zwei Zimmer für Helga und Herbert Kalläne, zwei Zimmer für Heiko, eins für Gäste. Bad, Küche, ein Partyraum im Keller. Von Luxusbau sprechen die Nachbarn und zeigen mit dem Finger auf Kallänes Rohbau: „Ohne Hochwasser und Spenden hätten die sich das niemals leisten können“. „Durch die Flutwelle sind die Menschen zusammengewachsen“, hatte Helmut Kohl vor einem Jahr gesagt. Nun sind an der Oder andere Töne zu hören.

Von Neid will der Amtsdirektor von Brieskow-Finkenheerd nicht reden, „das ist ein falsches Wort“. Die Versicherung hätte großzügig gezahlt, erzählt Reimar Vögele, und die Spenden – allein 20 Millionen in seinem Bereich – seien gerecht verteilt worden. Von einer Region, die „herausgeputzt daherkommen wird“, redet Ralf Artelt vom Landratsamt Oder-Spree. Von einem „Traum, den sich die Leute erfüllen“ spricht Christine Kuke von der Spenden-Koordinierungsstelle in Eisenhüttenstadt.

Herbert Kalläne am Gartenzaun schaut müde hinüber zur Oder, denkt an seine Frau, die oben im Zimmer liegt mit Rückenschmerzen. Hin und wieder entfahren ihm Sätze wie „Meine Frau ist am Ende“ und „Hoffentlich hält sie durch“. Eine Frage formuliert er nicht, aber sie ist ihm anzumerken: Was werden wir noch von dem neuen Haus haben? Herbert Kalläne ist 68, seine Frau 65.

Langsam dreht er sich um, verschränkt die Arme hinter seiner Arbeitsjacke, geht gemächlich über den Hof. Spricht mit den Dachdeckern, ob auf das alte Haus, wo nun keine Dachsteine mehr sind, behelfsmäßig Planen kommen; spricht mit den Elektrikern ab, wo die Leitungen verlegt werden. Er muß den Bau beaufsichtigen. Sein Sohn Heiko kann es nicht. Er ist Heizungsmonteur, tagsüber unterwegs und froh, eine Arbeit zu haben. „Er wollte zwei Monate zu Hause bleiben und alles machen, aber wer gibt ihm dann wieder Arbeit?“ fragt Herbert Kalläne. So bleiben Heiko Kalläne die Wochenenden fürs Fliesen, Verputzen und Heizungverlegen. „An einem Wochenende“, sagt Herbert Kalläne stolz, „hat er 200 Meter Rohr verlegt, der Junge.“ Der Junge hat sich vorgenommen, fast alles selbst zu machen. „Ein Mercedes muß schon dabei rausspringen“, so seine Worte. Was für ihn, Herbert Kalläne, rausspringt? Vielleicht noch ein paar schöne Jahre im neuen Haus. Vielleicht.

Ein paar schöne Jahre, 300 Meter von der Oder entfernt? Am liebsten hätten Kallänes anderswo gebaut. Im Nachbarort Wiesenau hatten sie schon ein Grundstück gefunden, aber das war nicht als Bauland ausgewiesen. Ein zweites hatten sie im Auge, aber da konnten sich die Behörden zu keiner Zusage entschließen. Kallänes lief die Zeit davon, Ende 1997 wußten sie noch immer nicht, wie es weitergehen sollte. Da hielten sie Familienrat und beschlossen, auf dem eigenen Grundstück zu bauen. Auch aus der Not heraus. Denn zum Kauf eines neuen Grundstücks dürfen sie die Spenden nicht verwenden, und ihr eigenes Geld hätte nicht gereicht.

Eine Spendenflut war nach dem Jahrhunderthochwasser ins Oderbruch geschwappt. Das Deutsche Rote Kreuz, das Diakonische Werk, der NDR, insgesamt 60 Hilfs- und andere Organisationen sammelten Geld, über 100 Millionen Mark für rund 250 zerstörte Häuser. Von Luxushilfe war die Rede. Kallänes können nicht klagen: Die Versicherung kam für den vollen Schaden am Haus auf; 200.000 Mark wurden ihnen überwiesen, ein Rest kommt, wenn der Neubau fertig ist. 100.000 Mark haben sie vom Diakonischen Werk bekommen, 25.000 Mark vom Roten Kreuz, 10.000 Mark vom Landratsamt. Im Fall Kalläne habe es Überzahlungen gegeben, ist heute aus dem Landratsamt zu hören. Spenden seien ausgezahlt worden, bevor klar gewesen sei, daß die Versicherung zahle. Nun muß zurückgezahlt werden. Für Herbert Kalläne unbegreiflich: „Es wurde doch für uns gespendet.“ – „Und was habe ich bekommen?“ fragt ein Nachbar aus Kunitzer Loose, der seinen Garten hatte davonschwimmen sehen: „Nicht mehr als die Soforthilfe.“

Der Nachbar hat seinen Garten wieder hergerichtet, ein Haus in Kunitzer Loose ist bereits wieder aufgebaut, drei andere sind im Bau, darunter das von Kallänes. Die Dachdecker beladen noch einmal die Palette am Arm des Krans mit Dachsteinen; sie sind nagelneu, vor der Sintflut hatten Kallänes ihr Dach neu decken lassen, Kosten: 9.000 Mark. Auch die Elektriker sind fertig für heute. Herbert Kalläne steht in seinem neuen Keller und sagt: „Ja, das Wasser hat vielen Leuten Arbeit gegeben. Es müßte jedes Jahr Wasser kommen, wegen den Arbeitslosen.“ Lachen mag niemand darüber, ein wenig zynisch die Worte, selbst für die Handwerker hier, die nicht wissen, ob sie im Herbst noch Arbeit haben. Im Landratsamt will man nur soviel sagen: Es sei vorstellbar, daß einige Baufirmen durch die Aufträge nach dem Hochwasser vorläufig überlebt hätten.

Noch einmal geht Herbert Kalläne an das schwere Gartentor, blickt hinüber zur Oder. Da drüben, auf polnischer Seite, im Dorf Kunitz ist er großgeworden, da hat er seine Helga kennengelernt. Im Winter 1946 mußten sie aussiedeln, über‘s Eis kamen sie nach Kunitzer Loose, hier fingen sie von vorn an: kleines Haus, großer Garten, Ställe; Schweine, Kühe, Pferde. Sie gingen arbeiten „auf der Kolchose“, waren fleißig, sparten, bauten nach der Wende – dann kam die Flut.

Herbert Kalläne mag nicht mehr rüberschauen, nicht mehr die Oder sehen. „Ich muß mich verabschieden“, sagt er leise, „ich muß nach meiner Frau schauen.“