: Hyundai bekommt Schlagseite
In Süd-Korea drängen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit die Gewerkschaften in die Defensive. Sie wollen jetzt mit Arbeitszeitverkürzungen Entlassungen verhindern ■ Aus Ulsan Sven Hansen
Am Tor der großen Fabrikhalle Nr. 1 der Hyundai Motor Company am Rand der südkoreanischen Stadt Ulsan fordert ein Schild die Eintretenden zu Korrektheit, Klarheit, Sauberkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration auf. Gerade werden von einem Lkw große Bleche entladen. Wenige Meter weiter in der Halle schneiden große grüne Maschinen Bleche automatisch klein, stanzen in rhythmischem Lärm Karosserieteile aus und pressen sie zu rundlichen Formen. In fahrbaren Ständern werden die Fahrzeugteile gestapelt, bis sie auf den ersten hundert Metern eines Fließbands von Robotern funkensprühend zu silbrig schimmernden Autogerippen verschweißt werden. 1,2 Kilometer später verlassen sie, nachdem 2.800 Teile von Arbeitern hinzugefügt wurden, als bunte, fahrbereite Autos das Fließband.
„Hier können wir 1,4 Millionen Fahrzeuge im Jahr produzieren“, sagt Firmensprecher B.H. Lee und fügt stolz hinzu: „Damit haben wir die größte einzelne Autofabrik der Welt.“ Noch im vergangenen Jahr, als Hyundai in drei Werken insgesamt knapp 1,6 Millionen Autos produzierte, sollte die 1975 gegründete Fabrik mithelfen, „die Welt im Sturm zu erobern“, wie das Ziel des Konzerns lautet. Jetzt droht die Fabrik in Ulsan dazu beizutragen, daß der inzwischen elftgrößte Autokonzern der Welt im Sturm der Asienkrise Schlagseite bekommt. „Leider ist die Größe nicht entscheidend“, so Lee, „sondern der Profit. Wir haben nur noch eine Kapazitätsauslastung von 45 Prozent, Gewinn machen wir aber erst ab 70 Prozent.“ Mit der Wirtschaftskrise ging der Verkauf von Neuwagen um über 50 Prozent zurück. Hyundai geht davon aus, dieses Jahr weniger als 900.000 Autos zu verkaufen.
„Die Arbeiter hier machen sich große Sorgen um ihre Jobs“, sagt Gewerkschaftsführer Lee Hyun- woo. „Deshalb sind die Motivation und die Produktivität zur Zeit gering.“ Der schmächtige 32jährige ist Vizepräsident der Hyundai- Betriebsgewerkschaft. Vor zehn Monaten wurde er zu einem der 40 hauptamtlichen Gewerkschafter gewählt, davor baute er acht Jahre lang am Fließband Klimaanlagen in Kleinbusse ein. „Ich bin stolz, hier zu arbeiten“, sagt Lee, „weil wir eine starke Gewerkschaft haben.“ Die Hyundai-Betriebsgewerkschaften der Autofabrik und der benachbarten Schiffswerft gelten als Avantgarde der Arbeiterbewegung. „Wir haben die stärksten Gewerkschaften der Welt“, meint gar Firmensprecher Lee.
Beim Gang durch die Fabrik fällt auf, daß sich fast alle Arbeiter auf den Rücken ihrer Arbeitswesten Parolen genäht haben, die den Erhalt der Arbeitsplätze fordern. „Zur Zeit ist die Betriebsgewerkschaft nicht so militant“, sagt Firmensprecher Lee, „offenbar haben die Arbeiter den Eindruck, daß es jetzt ums Überleben geht.“
Im Mai sprach die Konzernleitung erstmals davon, daß von den 46.000 Beschäftigten der Autoproduktion 8.200 überflüssig seien. Nachdem 3.360 durch Abfindungen zu freiwilligen Kündigungen bewegt werden konnten, wurde Ende Juni die Entlassung von 4.830 Arbeitern angekündigt. Ende Mai betrug die Arbeitslosigkeit in Süd-Korea offiziell 1,5 Millionen, eine Million mehr als ein Jahr zuvor. Zum Jahresende rechnet die Regierung mit 2 Millionen oder rund 10 Prozent, die nach Meinung von Gewerkschaftern schon längst erreicht sind.
In den Chaebol, den südkoreanischen Großkonzernen, sind Massenentlassungen erst möglich, seit sich im Februar Vertreter von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung auf eine Änderung des Arbeitsgesetzes geeinigt hatten. Noch Anfang 1997 gab es erbitterte Streiks, nachdem die damalige Regierung in einer Nacht- und-Nebel-Aktion das Gesetz verschärft hatte und es später wieder aussetzen mußte. Doch unter dem Druck des IWF-Programms drängte Präsident Kim Dae-jung noch vor seiner Amtsübernahme die Gewerkschaftsführer dazu, in einer trilateralen Kommission der Möglichkeit künftger Massenentlassungen zuzustimmen.
Dies führte im Gewerkschaftsbund KCTU, dem militanteren der zwei Gewerkschaftsverbände, zu internem Aufruhr. Die 560.000 KCTU-Mitglieder kommen hauptsächlich aus den Großkonzernen. Im Unterschied zur Führung stimmte die entscheidende KCTU-Delegiertenkonferenz gegen die Änderung des Arbeitsgesetzes und rief umgehend zum Streik auf. Wegen des Richtungskampfs und des geringen öffentlichen Zuspruchs wurde der Arbeitskampf jedoch kurz darauf abgesagt. „Wir haben Massenentlassungen nie zugestimmt“, so Hyundai-Gewerkschafter Lee. Dafür hätten die KCTU-Führer in der trilateralen Kommission kein Mandat gehabt. Die Regierung betrachtet die Unterschriften der KCTU-Führer vom Februar allerdings als gültig. Die damaligen Gewerkschaftsbosse wurden inzwischen durch radikalere ersetzt.
Ende Mai organisierte die neue KCTU-Führung einen ersten zweitägigen Warnstreik, dessen Zentrum bei Hyundai war. Ein weiterer Streik Mitte Juni wurde allerdings abgesagt, und KCTU beschloß, wieder an der trilateralen Kommission teilzunehmen, die Präsident Kim Dae-jung in Arbeitsfragen berät. Für die Gewerkschaften ist das Angebot zum Dialog neu. Sie sind sich aber nicht sicher, wie ernst es die Regierung meint. „Das Arbeitsministerium möchte die Zahl der Arbeitslosen reduzieren, das Wirtschaftsministerium vor allem das IWF-Programm umsetzen“, sagt Kim Keun-soo vom KCTU-nahen Institut für Arbeit und Gesellschaft. „Es besteht die Gefahr, daß die Gewerkschaft Verantwortung übernehmen muß, ohne letztlich mitentscheiden zu können.“
„Nur durch militante Aktionen können wir sicherstellen, daß unsere Interessen nicht ignoriert werden“, meint KCTU-Sprecher Yoon Young-mo. Streiks würden dadurch erschwert, daß Präsident Kim beliebt sei und das Gefühl vorherrsche, Korea befinde sich wegen der Krise in einer kriegsähnlichen Situation, weshalb die Regierung unterstützt werden müsse. „Wir wollen unsere militante Tradition behalten und zugleich an den Entscheidungen beteiligt sein“, sagt Yoon. Vielleicht seien Entlassungen unvermeidlich, räumt er ein, aber es müsse über ihr Ausmaß diskutiert werden. Mit dem IWF-Programm drohe eine strukturelle Arbeitslosigkeit von zehn Prozent. „Das ist völlig unakzeptabel“, so Yoon.
„Die Verhandlungen in der trilateralen Kommission sind für uns ein gutes Mittel, um Druck auf die Regierung auszuüben“, meint Noh Jin-kwi vom Gewerkschaftsverband FKTU, der eine Million Mitglieder zählt. Im Unterschied zum „roten“ KCTU gilt der als „gelb“ bezeichnete FKTU als gemäßigt und regierungsnah. „Die Bevölkerung ist momentan nicht für Streiks. Wir sollten zuerst verhandeln und diskutieren“, sagt Noh. In der trilateralen Kommission könne gut über Arbeitszeitverkürzungen und Mitbestimmungsrechte gesprochen werden. „In der ersten Verhandlungsrunde der trilateralen Kommission haben die Gewerkschaften große Zugeständnisse gemacht, jetzt sind Arbeitgeber und Regierung dran“, so Noh.
KCTU wirft den Arbeitgebern vor, die Krise zu nutzen, um die Gewerkschaften zu schwächen. Die Arbeitgeber hielten sich zudem nicht an Gesetze. Immer häufiger würden Arbeiter ohne vorgeschriebene Abfindungen entlassen, die oft die einzige Unterstützung für Arbeitslose seien, klagt KCTU-Sprecher Yoon. Auch würde Gewerkschaftern oft als erste gekündigt. Der Leiter der staatlichen Schlichtungskommission für Arbeitskonflikte geht davon aus, dieses Jahr statt der 4.000 Fälle wie im Vorjahr 6.000 Beschwerden zu erhalten – meist wegen nicht gezahlter Löhne und Abfindungen.
„Wir wollen die Arbeit besser verteilen“, sagt Hyundai-Gewerkschafter Lee. „Im letzten Jahr haben wir bei Hyundai im Schnitt 56 Stunden die Woche gearbeitet. Während der Krise sollte die Arbeitszeit in Problemsektoren wie der Autoindustrie auf 36 Stunden reduziert werden. Dafür verlangen wir keinen vollen Lohnausgleich, sondern das Gehalt von etwa 40 Stunden. Die gesetzliche Arbeitszeit sollte von 44 auf 40 Stunden reduziert werden.“ Als größtem koreanischem Konzern kommt der Entscheidung bei Hyundai sowohl in der Frage einer Arbeitszeitverkürzung als auch von Massenentlassungen eine Pilotfunktion zu. Als erster Konzern hat Hyundai die Nutzung der Möglichkeit zu Massenentlassungen angekündigt.
Die Gewerkschaften fordern Reformen der Chaebol, die als Hauptverantworliche der Krise gelten. KCTU will, daß die Leitung der Konzerne nicht mehr vererbt werden kann und daß die Eigentümerfamilien mit ihrem persönlichen Besitz haften müssen. Darüber hinaus will die Gewerkschaft mehr soziale Gerechtigkeit durch eine Kapitalertragsteuer. Das Geld sollte für Arbeitslose, Beschäftigungsprogramme und Qualifizierungsmaßnahmen verwendet werden. „Präsident Kim Dae-jung wird nur mit der Unterstützung der Gewerkschaften die Chaebol reformieren können“, glaubt Yoon.
„Sollte Hyundai wie angekündigt 4.830 Arbeiter entlassen, kann unsere Antwort darauf nur Streik heißen“, so Betriebsgewerkschafter Lee kampfbereit. Seine rote Weste zeigt auf der Brust vier Arme in einem Kreis, die sich gegenseitig festhalten. Über dem Gewerkschaftslogo steht „Vereint!“ Bereits vergangene Woche kam es bei Hyundai wegen der angekündigten Entlassungen zu einem zweitägigen Warnstreik, am Wochenende demonstrierten mehrere zehntausend Gewerkschafter beider Verbände in Seoul. Hyundai hat die Vorschläge der Gewerkschaft zur Arbeitszeitverkürzung zurückgewiesen. „Sollte es bei Hyundai zum großen Streik kommen, sind die Verhandlungen der trilateralen Kommission und damit der Dialog der Regierung mit den Gewerkschaften zum Scheitern verurteilt“, meint Lee Byong-hoon vom regierungsnahen Institut für Arbeit.
Auf dem Weg zur Ausfahrt des Hyundai-Fabrikgeländes steht auf einer Werkshalle in großen Buchstaben: „Liebt unsere Firma, liebt unsere Autos!“ Und die Arbeiter?
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