: Der Alte Meister...
...der Kulturrevolution. Am 19. Juli wäre Herbert Marcuse 100 Jahre alt gworden. Eine kleine Erinnerung an die Gesellschaftskritik und ihre Erfolgsgeschichte ■ Von Michael Rutschky
Der Hörsaal V der Frankfurter Universität beansprucht nur die Hälfte des berühmten Hörsaal VI – in dem Adorno zweimal wöchentlich seine berühmte Vorlesung hielt –, deshalb war er gleich überfüllt.
Was den schlanken, weißhaarigen Herrn mit der Adlernase verblüffte. Er könne sich das, bemerkte er freundlich mit seiner schönen Baßstimme, die einen berlinischen ebenso wie einen amerikanischen Akzent hören ließ, er könne sich die Überfüllung nur daraus erklären, daß man ihn mit seinem Namensvetter Ludwig M. verwechsle. Gelächter. Gelächter, das ihm zu verstehen geben sollte: Keineswegs. Wir wissen genau, wer Sie sind, und deshalb sind wir gekommen.
Das muß 1965 gewesen sein; leider fehlt in meinem Studienbuch ebenso wie in meinem Kalender jeder Hinweis, wann genau und mit welchem Thema Herbert Marcuse diese Gastvorlesung in Frankfurt hielt. Dafür vermerkt der Taschenkalender getreulich, daß ich im Strandkorb ebenso wie im Café Sandwall Tag für Tag „Triebstruktur und Gesellschaft“ studierte: Sommerferien in Wyk auf Föhr, ich war 22 Jahre alt.
Das nächste Bild zeigt K., wie sie mich zwei Jahre später am Westberliner Busbahnhof (Messegelände) abholt. Nach acht Stunden Fahrt bin ich endlich aus Göttingen eingetroffen. Gleich kommen wir auf den Stand der Revolution und die Alten Meister zu sprechen: Auf Adorno, erklärt K. kategorisch, gebe man in Berlin nun gar nichts mehr. Der einzige, dem zugehört wird, ist Herbert Marcuse.
Am 13. Mai 1968 erreicht er den Höhepunkt dieses Ruhms. Michael Ruetz' berühmte Fotos zeigen ihn im weißen Hemd an dem Tisch sitzend, bei aufgestützten Ellenbogen sind die Fingerspitzen der beiden Hände vor dem Mund gegeneinander gelegt – man muß ein bißchen nachdenken, bis man versteht, was das Foto zur Ikone geeignet macht: Herbert Marcuse, dessen weißes Haar und Hemd auratisch leuchten, der unverkennbar den Mittelpunkt der Szene bildet, um den sich die Massen gruppieren, der Alte Meister ist nicht der Redner, sondern der Zuhörer! Wäre die Studentenrevolte eine rundum gelungene Sache, man könnte Michael Ruetz' Foto direkt mit dem berühmten von Lenin konfrontieren: wie er von der Tribüne den Massen predigt. Das ist der Unterschied, könnte man schwärmen, der wahrhaft revolutionäre Intellektuelle lauscht den Massen, statt auf die einzuteufeln.
Mein letztes Bild von Herbert Marcuse ist ein trauriges: Die Szene mag 1975 spielen (ich bin 32 Jahre alt): Unter den Studenten, mit denen man im Seminar zu tun bekommt, finden sich neben den bekennenden Holzschnitt-Marxisten – die für die Befreiung Campucheas durch die Roten Khmer unter der Führung des weisen und gütigen Pol Pot agitieren –, unter den Studenten finden sich neuerdings sogenannte Spontis, die den K-Gruppen feind sind, insofern sie auf Subjektivität und Spontaneität setzen und das ganze Geschäft der „Ableitungen“ aus den Schriften der Klassiker verabscheuen. Im Seminar geht's um ästhetische Fragen, und einer von den Spontis bemerkt, er habe eben den „Versuch über die Befreiung“ von Herbert Marcuse gelesen, Hochinteressantes über Ästhetik und die neue Sensibilität in ihrer Bedeutung für die Revolte. Ob dieser Herbert Marcuse womöglich derselbe sei wie der Gastprofessor, der dies Semester eine Vorlesung drüben bei den Philosophen halte? Da werde er, der Sponti, vielleicht doch mal hingehen.
Es muß wohl so sein, daß einer, der mit siebzig plötzlich zu Weltruhm gelangt (who the fuck is Ludwig Marcuse?), weil sein Denken haargenau mit dem sogenannten Zeitgeist konvergiert, es ist ganz unvermeidlich, daß ein solcher Ruhm, wenn der Zeitgeist sich anderswohin wendet, erst einmal verblaßt.
Dem Zeitgeist sein Wehen vorzuwerfen und trotzig an Herbert Marcuses kritischen Formeln festzuhalten – hat er nicht in der Gegenwart gesiegt, der „eindimensionale Mensch“? bezeugt der wohlfeile Sex in den Medien nicht triftig Marcuses Diagnose der „repressiven Entsublimierung“? –, die einfache Wiederholung dieser Formeln erweckt den Eindruck einer Frömmigkeitsübung. Der Adept gibt zu verstehen, daß er dem Meister unverbrüchlich folgt. So mußten die interessanten Gutachten, die Herbert Marcuse während des Zweiten Weltkriegs für den amerikanischen Geheimdienst über Nazideutschland verfaßt und die jetzt der zu Klampen Verlag unter dem Titel „Feindanalysen“ (herausgegeben von Peter Erwin Jansen, Einleitung von Detlev Claussen, Lüneburg 1998, 149 Seiten, 24 Mark) versammelt hat, gleich auf die SWF-Bestenliste: ein Loyalitätsbeweis.
Bekanntlich befindet sich die philosophische Gesellschaftskritik in einer schwierigen Lage. Weil der Zeitgeist, klagt die eine Fraktion der Achtundsechziger, sich seit den achtziger Jahren dem Affirmativen verschrieben hat, die Yuppies, der Hedonismus, das Eleganzprogramm. Keiner erträgt mehr den Schmerz der Negation. Ich rechne mich zu der anderen Fraktion. Sie erkennt als Ursache für die Schwierigkeiten der Gesellschaftskritik heute ihren Massenerfolg. Wir leben in einer Gesellschaft, die samt und sonders aus Gesellschaftskritikern besteht. Wäre ich Professor, ich gäbe mal als soziologische Diplomarbeit in Auftrag: Untersuchen Sie ein Jahr lang den Leserbriefteil der Welt im Hinblick darauf, welche kritischen Formeln der Frankfurter Schule die Leserbriefschreiber verwenden! Längst sind diese Formeln eine Art Folklore geworden. Bekanntlich hat der Bundespräsident Herzog, in den revolutionären Sechzigern verhaßt als Rechtsprofessor an der FU, die Sache in seiner Rede zum 100. Geburtstag von Heinrich Heine auf den Punkt gebracht: Ätzende Gesellschaftskritik ist heutzutage Staatsbürgerpflicht. Einige Etagen höher faßt die Gesellschaftstheorie das Problem darin, daß das Neinsagen, die Negation samt aller ihrer Inhalte, eine Operation des Systems selber ist und keinen höheren oder besseren Zustand des Systems, seine Utopie darstellt.
So kann man auf den Gedanken kommen, systematisches Schönreden sei eine der letzten Strategien authentischer Gesellschaftskritik.
Nehmen wir den Sex im Fernsehen, die Love Parade, den Christopher Street Day – überhaupt: die Emanzipation der Homosexuellen (die, ich weiß, ich weiß, noch nicht vollendet, aber doch sehr gut vorangekommen ist). Eine der scharfsinnigen Argumentationen Herbert Marcuses in „Triebstruktur und Gesellschaft“ – denen der 22jährige während seiner Sommerferien in Wyk auf Föhr mit großer Spannung folgte – unterscheidet in Siegmund Freuds Lehren über den tragischen Konflikt von Kultur und Natur die notwendige von der „zusätzlichen“ Triebunterdrückung, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlege.
Ist die von Freud beschriebene unauflösbare Tragik in der Anthropologie fixiert – der Mensch ist das traurige Tier, das nie vollständig bekommt, was es sich wünscht –, so variiert die Form ebenso wie das Ausmaß der „zusätzlichen“ Triebunterdrückung. Auch in dieser Hinsicht können Gesellschaften lernen.
Die unsere hat es getan. Noch in den Fünfzigern befürchtete ein durchaus aufgeklärter Soziologe wie Helmut Schelsky, die Freigabe der Homosexualität könne zu schweren normativen Krisen führen. Keineswegs. Im Gegenteil. Die allgemeine Liebesunordnung ist – durch Inklusion der Abweichung – sicherer geworden. Das gilt für alle anderen Abweichungen auch. Daß eine sexuelle Revolution ansteht, wie der 22jährige und seinesgleichen 1965 nur allzugern glaubten, jeder Blick in den Kleinanzeigenteil der Stadtillustrierten belehrt darüber, daß sie stattgefunden hat.
Gesellschaftskritische Spitzenklöppelei, das Grübeln darüber, ob nicht gerade der Erfolg der sexuellen Revolution ihr Scheitern erweise... – so etwas hätte Herbert Marcuse mißfallen. Er war ein freier Mann. Wie nicht zuletzt die Aufmerksamkeit zeigt, mit der er sich als Siebzigjähriger den antiautoritären Studenten zuwandte.
Auch in anderen Hinsichten könnte man gewisse Erleichterungen und Umgestaltungen im Leben der Gegenwart als Annahme von Herbert Marcuses Vorschlägen verstehen: die bis tief in die Arbeiterklasse reichende Neigung zum Hedonismus, was die Abspannung des von Marcuse kritisierten „Leistungsprinzips“ impliziert; die Ästhetisierung von Lebensformen, also die Ablösung des Ästhetischen vom Kunstwerk, das Adorno schließlich zur einzigen Form authentischer Praxis erhob („Der Artist als Statthalter“ der befreiten Menschheit: berühmter Essay von 1953).
Der französische Philosoph Gilles Lipovetzky hat vorgeschlagen, die Revolte der späten Sechziger aus der Geschichte des Sozialismus (in der sie sich selbst zuweilen sah) komplett herauszulösen und im Zusammenhang des Individualismus zu lesen, der die Gegenwart dominiert.
Herbert Marcuse hat mal gesagt, das habe ihn letztlich von Heidegger – bei dem er sich habilitieren wollte – abgebracht: daß am Ende doch das Individuum („Dasein“) einer höheren Ordnung (des „Seins“) unterworfen werden sollte. Im Zentrum des deutschen Idealismus stehe, erklingt der Paukenschlag am Anfang von „Vernunft und Revolution“ (1941), der Verteidigung Hegels gegen den Totalitarismusverdacht, „das Individuum als selbstvertrauender Herr seines Lebens“. Herbert Marcuse war an der Entdeckung und ersten philosophischen Auswertung von Marx' Jugendschriften beteiligt, in denen die Theoretiker des neuen Individualismus viele hübsche Parallelstellen zu ihren eigenen Argumentationen fänden. Es ist der unabtretbare Anspruch des Individuums auf Glück, der im Zentrum von „Triebstruktur und Gesellschaft“ steht; mit Freud richtet ihn Herbert Marcuse gegen alle ordnungsphilosophischen Neigungen bei Marxisten, rechten wie linken Hegelianern. Entsprechend wütende Gegnerschaft hat er in den späten Sechzigern als Alter Meister der Kulturrevolution hervorgerufen, eine Revolution, die bekanntlich andauert und den bescheidenen Versuch zu einer geistig-moralischen Wende erfolgreich ignoriert hat.
Hegel, Marx, Freud. An jener Szene im Hörsaal V, als die Frankfurter Studenten Herbert Marcuse durch ihre Massenhaftigkeit verblüfften, ist aber auch ein tief (und beruhigend) konservatives Moment zu beobachten.
Als Emigranten, die teils zurückgekehrt waren, teils – wie Herbert Marcuse – Gastrollen gaben, verkörperten die Theoretiker der Frankfurter Schule große Traditionen neu. Adorno, Horkheimer, Herbert Marcuse stellten dar, daß es Alte Meister gibt, von denen der Jungmensch was lernen kann, ganz einfach. Die einheimischen Autoritäten waren halt, wenn nicht direkt verderbt, so doch gründlich in Verdacht geraten und hatten so das Lernen von Meistern unmöglich gemacht.
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