: Stolz ist hier niemand mehr
Die zwischen Äthiopien und Eritrea umstrittene Grenze verläuft mitten durch viele Biographien: Lebensschicksale von der Front eines nicht enden wollenden Krieges ■ Aus Adigrat Peter Böhm
Maasu Wolde-Mariam steht auf und zeigt ihre Kleider. „Das, was ich am Leib hatte, habe ich mitgenommen“, sagt die 60jährige grauhaarige Frau dann und ist den Tränen nahe. Ihren Besuchern bietet sie zwar, wie es sich gehört, Ingera, das äthiopische Nationalgericht, an. Aber das dünne, fladenartige Brot ist aus Weizenmehl gebacken, das die äthiopische Hilfsorganisation „Rest“ in der Stadt verteilt, und nicht aus Tef, der standesgemäßen Getreideart dafür, die nur in Äthiopien angebaut wird. Für andere mag das eine Nebensache sein, für die stolze Äthiopierin ist es ein Grund zur Scham.
Wie viele Bewohner von Zalambessa hat Maasu Wolde-Mariam Anfang Mai, nachdem die Stadt an der Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea von eritreischer Artillerie beschossen wurde, alles stehen und liegen gelassen und ist ins 20 Kilometer südlich gelegene Adigrat geflohen. Vor den Kämpfen sind nach offiziellen Angaben insgesamt 175.000 Äthiopier geflohen. Auf die rund 30.000 Einwohner Adigrats kommen nun noch einmal soviele Flüchtlinge. Wolde-Mariam ist mit ihren zwei Töchtern und deren zehn Kindern in einem Haus mit zwei Zimmern untergekommen, dessen Eigentümer in der Hauptstadt Addis Abeba leben. Die Miete bezahlen Bekannte, nachts kommen noch fünf Männer zum Schlafen hierher.
Die Erinnerung an den Hunger ist noch frisch
„Wir ermutigen alle Einwohner, Vertriebene in ihren Häusern aufzunehmen“, hatte zuvor der Berater für Soziales der Region Tigre, Solomon Inquie, erklärt. „Wir versuchen mit allen Mitteln, die Entstehung von Lagern zu verhindern.“ Die Erinnerung an die Hungersnot von 1984/85, als aus dieser Gegend Bilder von abgemagerten Äthiopiern um die Welt gingen, ist noch frisch. So etwas soll nie wieder vorkommen.
Die äthiopische Regierung hat in den letzten Jahren versucht, mit Überschüssen aus den fruchtbareren Regionen des Landes das Nahrungsmitteldefizit in Tigre auszugleichen. Nach der schwachen Regenzeit im vergangenen Jahr und den darauffolgenden flutartigen El-Niño-Regenfällen waren allerdings 20 Prozent der 3,5 Millionen Tigreer auf UN-Nahrungsmittellieferungen angewiesen. Entsprechend empfindlich sind deshalb die offiziellen Aussagen über den Bedarf von außen. Wenn während der Regenzeit nicht auf den Feldern gearbeitet werden könne, sagt zum Beispiel Regierungssprecherin Salome Tedesse in Addis Abeba, „dann kann es zu einer akuten Nahrungsmittelknappheit kommen“. Das Wort „Hunger“ weist sie weit von sich.
Sie müsse zwar wegen der Kinder die meiste Zeit zu Hause bleiben, sagt Maasu Wolde-Mariam, aber nach ihren Erfahrungen seien die Menschen in Adigrat bisher sehr hilfsbereit gewesen. „Doch wenn wir noch länger hier sein müssen, dann wissen wir nicht, ob es weiter so bleibt.“ Bevor sie sich etwas gesprächiger gezeigt hatte, fragte sie die Übersetzerin, warum sie denn den Besuchern gesagt habe, daß der Ehemann ihrer Tochter Eritreer ist. Sie würden doch nichts verraten, oder?
Die Wunden sind tief. Aus zwei Ländern, die vor kurzer Zeit noch eines waren, deren Bewohner problemlos für Handel oder Arbeit die Grenze überquerten, über die Grenze miteinander verwandt sind und in weiten Abschnitten ohne Grenzkontrollen auskamen, sind erbitterte Feinde geworden.
Die 35jährige Hadus Haile kam Anfang Juli nach Adigrat. Wegen der Behinderung eines ihre Kinder konnte sie nicht eher aus Zalambessa fliehen. Sie sagt, sie habe beobachtet, wie eritreische Soldaten zwei Händler – Patienten des Krankenhauses – in Zalambessa vor Zuschauern hinrichteten. „Ich wollte sterben, als ich gesehen habe, wie stark die Stadt zerstört ist“, sagt sie. Ihr Mann ist im Augenblick nicht in Adigrat. Er pflügt und sät nahe der Front, um die Regenzeit auszunutzen.
In der Badme-Region, die andere umstrittene Grenzregion, rund 150 Kilometer westlich, berichten die geflohenen Bewohner, daß eritreische Truppen Gesundheitsposten, Schulen und Verwaltungsgebäude zerstört hätten. „Wir werden euch bessere bauen als die alten“, hätten die Eritreer versprochen. Während der eritreischen Bombenangriffe auf äthiopische Städte Anfang und Mitte Juni – die einem äthiopischen Luftangriff auf Eritreas Hauptstadt Asmara folgten – wurden vor allem zivile Ziele beschossen: In Mekelle eine Schule, in Adigrat zwei Getreidespreicher, von denen einer vollständig ausbrannte, eine Kirche, die neue Arzneimittelfabrik, auf die die Regierung so stolz war, und in Axum der fast fertiggestellte Flughafen. Der Standortvorteil nahe den eritreischen Häfen erweist sich plötzlich als gravierender Nachteil.
Einen Grund, warum Eritrea am 12. Mai Truppen in den Badme- und die Hälfte des Sheraro- Distriktes geschickt haben könnte, geben die Aussagen von eritreischen Überläufern wider. „Ich fand es völlig beängstigend, daß wir innerhalb so kurzer Zeit mit unseren vier Nachbarländern Konflikte hatten“, sagt der 25jährige eritreische Soldat Tewolde Tesfategn. „Besonders während Krisen hat die Armeeführung immer gesagt, daß wir von Feinden umzingelt sind. Deshalb müßten wir militärisch stark sein. Dann könnte uns keiner etwas anhaben.“ Sie hätten sich dabei immer auf das Beispiel Israel bezogen.
Tesfategn schloss sich 1989 der eritreischen Befreiungsbewegung EPLF an, die 1991 die äthiopischen Besatzer besiegte und seither regiert. 1992 wurde er aus der Armee entlassen und ging für drei Jahre nach Addis Abeba. Im tigreischen Mekelle, wo er seinen Führerschein machen wollte, sagte ihm ein ehemaliger Kamerad, er solle nach Eritrea zurückkehren, um seine Existenzgründungshilfe für demobilisierte Soldaten abzuholen. Nachdem sich Tesfategn in Asmara beim Verteidigungsministerium gemeldet hatte, wurde er für 18 Monate eingesperrt. Begründung: „Ich hätte das Land verlassen, als es mich gebraucht hat.“
Das Gespräch mit dem Überläufer findet im Beisein einer Regierungssprecherin statt. Aber manche seiner Aussagen sind nachprüfbar. Eritrea führte tatsächlich 1994 einen 18monatigen Pflichtdienst für alle Männer bis zu 40 Jahren ein. In Zawa im Südwesten des Landes wurden sie ein halbes Jahr militärisch ausgebildet und dann in zivilen Projekten, vor allem bei Bauarbeiten, eingesetzt. Die ersten vier von heute sieben Zawa-Jahrgängen wurden im April über die Medien aufgerufen, sich zu melden.
Kriegsenthusiasmus ist nicht zu spüren
Der 28jährige Überläufer Osman Omar Ahmed ist einer dieser Soldaten, die nach der Aussage der beiden drei Viertel der eritreischen Truppen an der Grenze stellen. „Es wurde uns gesagt, daß wir für Entwicklungsarbeiten gebraucht werden“, berichtet Ahmed, der mit Erspartem, das er in Saudi- Arabien verdient hatte, in Asmara eine Autowerkstatt eröffnet hatte. Nahe der sudanesischen Grenze half seine Einheit beim Straßenbau, dann sollte er nach Badme verlegt werden.
„Ich fühle mich fürchterlich betrogen“, gibt Osman als Grund für seine Flucht an. „Ich glaube daran, daß man seine Pflicht für sein Land erfüllen muß. Ich bin im Krieg geboren und aufgewachsen, ich habe keine Angst. Aber wenn ich kämpfen soll, dann gehe ich davon aus, daß man es mir vorher sagt.“ Warum er nicht in den Sudan geflohen ist, was viel näher gewesen wäre? „Die Grenze zum Sudan ist mit Gräben und Bunkern ausgebaut. Da wäre ich nie durchgekommen. Mein Glück war, daß die Grenze zum neuen Feind noch nicht so gut gesichert ist.“
Mit solchen Problemen scheinen sich die äthiopischen Armeechefs nicht herumschlagen zu müssen. Zwei jungenhaft wirkende Divisionskommandeure, die den Blick scheu senken, wenn man ihnen Fragen stellt, berichten, daß ihre Truppen aus regulären Soldaten, Milizionären und wiedereingegliederten Guerillaveteranen bestünden. Die vielen begeisterten Freiwilligen, die im äthiopischen Fernsehen zu sehen sind, „tröpfelten“ aber erst ein. An einen tatsächlichen Grenzstreit glauben sie nicht. „Eritrea hat Badme ausgesucht, weil es das einfachste Ziel war“, sagt der zweite. „Es liegt genau zwischen Mekelle und der sudanesischen Grenze, wo unsere Truppen stationiert waren.“ Und tatsächlich ist es schwer vorstellbar, daß diese 400 Quadratkilometer große Region umkämpft sein soll. Auch wenn die äthiopischen Begleiter darauf bestehen, daß hier Sorghum gedeihe und die Gegend sich gut zur Viehzucht eigne, wirkt sie sehr trocken. Außerhalb vom kargen Tigre würde wohl keiner behaupten, es sei gutes Land.
Zurück an der Front von Zalambessa liefern sich derweile beide Seiten Artilleriegefechte. Von der äthiopischen Seite sind Maschinengewehrfeuer und leichte Geschütze zu hören, während das dumpfe Krachen der eritreischen Geschütze von einem Felsplateau durch die Schluchten hallt und eine Granate weit von jeglichem möglichen Ziel Dreck aufspritzen läßt. Auf was geschossen wird, ist nicht klar. In dem Tal zwischen den Stellungen grasen Viehherden, und einige vereinzelte Bauern arbeiten auf ihrem Feld. Das äthiopische Radio, das sonst kaum eine Gelegenheit ausläßt, eritreische Gemeinheiten zu verbreiten, meldet diese Scharmützel nicht.
Von den äthiopischen Stellungen, 20 Kilometer von Adigrat entfernt, könnte Maasu Haile-Mariam bequem ihre Heimatstadt Zalambessa einsehen. Den Schlüssel für ihr Haus trägt sie noch immer an einem Faden um ihren Hals. „Meine Kinder sagen, wirf ihn doch endlich weg“, sagt sie. „Aber ich kann mich nicht von ihm trennen.“ Ob ihr Haus noch steht? Das weiß sie nicht.
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