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Vertreibung aus dem Paradies

Philip Roths neuer Roman „Amerikanisches Idyll“ zeichnet alles andere als eine Idylle. Roth schrieb eine Art „Buddenbrooks“ für New Jersey und begibt sich damit wieder einmal auf die Suche nach dem großen Schuldzusammenhang. Pardon wird nicht gegeben  ■ Von Mariam Lau

Als Philip Roth vierzig Jahre alt war und längst ein gefeierter amerikanischer Romancier, schrieb der Kritiker Irving Howe 1973 in seiner Zeitschrift Commentary eine Polemik gegen ihn, die klang, als solle Roth danach am besten für immer schweigen. Howe – eine Generation älter, ebenfalls Sohn jüdischer Einwanderer und Starautor der antikommunistischen linken New Yorker Intellektuellenszene – warf Roth vor, er sei prätentiös, arrogant und untalentiert. Witzig sei er auch nicht. Er sei kulturell heimatlos, und das ätzende Ressentiment, das er kübelweise auf dem jüdischen Mittelstand, seinen Vorfahren, ausgieße, nähre sich von nichts als einem abgegriffenen Modernismus, der seinerseits weder zur amerikanischen Gegenwart noch zur jüdischen Tradition irgendeine andere als bloß parasitäre Beziehung unterhalte. Nicht einmal vor dem Holocaust mache seine selbstgefällige Satire halt.

Was immer Howe da querschoß – das klassische antisemitische Stereotyp vom heimatlosen Juden oder die Wut der ehemaligen Avantgarde über die Unverfrorenheit der Nachrücker – es verfehlte seine Wirkung nicht. In seinem nächsten Roman „Die Anatomiestunde“ (1983), dem dritten Teil der autobiographisch angelegten „Zuckerman“-Trilogie, läßt Roth seinen Helden, den Schriftsteller Nathan Zuckerman, eine selbstironische Tirade gegen den Kritiker Milton Appel loslassen – hinter dem nicht nur Eingeweihte sofort Irving Howe erkannten: „Diese Juden, diese Juden und ihre verantwortungsbewußten Söhne! Der Witz ist, die eingefleischtesten Hasser spießiger Juden, mit wirklicher Verachtung für deren Kleinkariertheit, das sind eben diese hochkomplexen Geistesgrößen. Sie verabscheuen sie, und sie sind auch nicht besonders scharf auf den Geruch des jüdischen Proletariats. Aber neuerdings sind sie plötzlich voller Mitleid für die Ghettowelt ihrer Vorväter, jetzt wo die schön und sicher weggepackt sind im Beth Moses Gedenkpark. Als sie noch am Leben waren, hätten sie die Immigrantenhunde am liebsten zu Tode gewürgt, weil die sich einbildeten, sie hätten irgendeine Bedeutung ohne je mehr von Proust gelesen zu haben als ,In Swanns Welt‘. Aber jetzt, wo es die Weatherman gibt, und mich und meine Freunde Jerry Rubin und Herbert Marcuse, da heißt es plötzlich: ach, wo ist nur die geistvolle Sauberkeit der guten alten Tage an der Hebrew-School geblieben? Wo ist das Linoleum? Wo ist Tante Rose?“

So setzte Roth sich noch eine Weile munter zur Wehr. Die Zumutungen des schlechten Gewissens – das in Irving Howe einen so machtvollen Fürsprecher gehabt hatte – arbeitete er mit immer wütenderer Energie in immer weitere Tiraden um. Den „Verrat“ am eigenen Milieu balancierte er durch gnadenlose Selbstironie aus. Wenn der jüdische Mittelstand aus Weeqhahic in Newark, New Jersey, lächerlich war – mit seinen Spardosen, seinen Abführmitteln und seinen Ferienidyllen in Florida – dann war es ganz sicher auch dessen Sprößling Nathan Zuckerman, der „Raskolnikow des Wichsens“. Der Ton blieb obsessiv, aber zugleich leicht und himmelschreiend komisch. Der gelebte Slapstick aller seiner Figuren – von Zuckerman bis Sabbath – entstand aus dem mit wütendem Ingrimm wieder und wieder inszenierten Versuch, den Sex von der Moral zu trennen, als klebte ihnen etwas Unappetitliches am Schuh.

Plötzlich, mit „Mein Leben als Sohn“ (1992), geschrieben während des langen Sterbens seines Vaters, hat die Schuld ihn doch noch eingeholt. Die Akribie der Verachtung ist dem erschrockenen Sammeln und Bergen gewichen. Hier protokolliert einer, der glaubt, vor den Trümmern der eigenen Aggression zu stehen: „Im Badezimmer ließ ich mir noch ein paar Minuten, um ein letztes Mal zu proben, wie ihm die Tumordiagnose am besten beizubringen sei. Während ich über der Schüssel stand, hing seine Unterwäsche überall um mich herum wie Lumpen, die ein Farmer aufhängt, um Vögel zu verscheuchen. Auf den offenen Regalbrettern über der Toilette, wo es eine Ansammlung von Arzneimitteln gab sowie sein Polident, seine Vaseline und sein Ascriptin, seine Schachteln mit Papiertüchern, Q-Tips und Watte, entdeckte ich den Rasiernapf, der einmal meinem Großvater gehört hatte; darin bewahrte mein Vater sein Rasierzeug und eine Tube Rasiercreme auf.“

Alle, alle – auch die Howe-Fraktion, die Rabbis und sogar die Feministinnen – haben Roth damals verziehen. Er bekam den National Book Award. Man bat ihn zu Lesungen in die Marmorsäle der Traditionsvereine, der jiddischen Landsmannschaften, der großen Stiftungen. Sein Name stand nun neben dem von Saul Bellow und Isaac Bashevis Singer, nicht mehr in der Schmuddelecke darunter. Aber es half nichts. Blitzte der alte Witz noch einmal kurz auf in „Operation Shylock“ (1993) – einem skurrilen Vexierspiel um den Autor Philip Roth, seinen Doppelgänger, und John Demjanjuk, genannt Iwan der Schreckliche – so blieb in „Sabbaths Theater“ (1995) nur noch der große, graue Katzenjammer.

Roths neuestes Buch „Amerikanisches Idyll“ plaziert die Katastrophe, von der es fortwährend singen und sagen will, in die sechziger Jahre. Die Sixties – war das nicht die Zeit, als „die Weathermen, ich und meine Freunde Jerry Rubin und Herbert Marcuse“ die Puppen tanzen ließen? Die Strafe folgt mit Macht. Nathan Zuckerman, der Schriftsteller, wird als Chronist gerufen, um die Geschichte des „Schweden“ aufzuzeichnen. Der „Schwede“ ist Seymour Levov, ein blonder, hünenhafter jüdischer Sportstyp aus Newark, New Jersey, der immer alles richtig gemacht hat, dem alles zufiel, was Amerika zu bieten hat: die Miss New Jersey, eine blonde Schikse namens Dawn Dwyer, die kleine Handschuhfabrik des Vaters, ein altes Landhaus, eine Rinderzucht, ein Kind.

Das Kind, Merry, ist reizend. Es stottert nur ein bißchen. Es haßt seine Mutter ein bißchen. Wenn die Rede auf den Vietnamkrieg kommt, ist es ein bißchen übereifrig. Eines Morgens 1968 geht Merry her und sprengt das kleine Postamt von Newark in die Luft. Dabei kommt Dr. Robinson ums Leben, der zufällig gerade seine Post in den Briefkasten wirft. Fünf Jahre lang hören der Schwede und seine Frau nichts von Merry. Das FBI durchwühlt ihr Leben, die Zeitungen vergleichen Merry mit anderen Massenmördern, ihre Eltern zerquälen sich das Hirn und können schließlich gar nicht mehr zusammenleben. Wie konnte uns das passieren? Warum unser Kind?

Die Suche nach dem großen Schuldzusammenhang wälzt das Buch mühsam vorwärts. Immer schon, vor allem seit den fünfziger Jahren, sind Werke über böse Kinder von ihr angetrieben, von „Herr der Fliegen“ über „Der Exorzist“, oder „Das Omen“ und „Rosemarys Baby“ bis zu Stephen Kings „Carrie“. Der Schwede nimmt wie Hiob einen Schlag nach dem anderen entgegen, bis er seine Tochter wiederfindet, um die Ecke, in einem baufälligen Haus ohne Licht und Wasser, stinkend, halb verhungert, zum Jainismus konvertiert. Von dem riesigen, fetten Monster, das sie als Bombenlegerin war, ist nur noch ein Gespenst geblieben, das scharf durchdachten Irrsinn vor sich hinflüstert.

Hiob mag zwar einstecken, aber seine Zähigkeit nützt ihm gar nichts. Newark verfällt, die Straßen, auf denen drei Generationen von Levovs Felle gerbten, Leder schnitten und Damenhandschuhe anpaßten, sind Schauplätze grusliger Verkommenheit. Die Juden sind weggezogen, die Schwarzen und Puertorikaner, die jetzt hier sind, schießen sich am hellichten Tag die Köpfe kaputt. The Eastern world, it is explodin'.

Roth gibt kein Pardon. Paradies, Sündenfall, Vertreibung, aus. Womit hat er das verdient?

Philip Roth: „Amerikanisches Idyll“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 1998, 464 Seiten, 45 DM

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