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Tagebuchversuch Von Lutz Büge

Sonntag, 5. Juli

Fasse beim Aufstehen den Entschluß, Tagebuch zu schreiben, um so die Vergänglichkeit der Zeit zu dokumentieren. Wundere mich beim Frühstück über meinen Milchkaffee, der mir ungewöhnlich trüb vorkommt. Im Radio höre ich, daß die Mickymäuse in Eurodisney bei Paris streiken, weil sie besser bezahlt werden wollen. Begegne diesem Ansinnen mit Sympathie. Auch ich würde gern besser bezahlt. Aber die Zeitungen knausern mit mir, schreiben jedoch Sätze wie: „Die Tugenden der deutschen Mannschaft sind Disziplin, Kampf und Athletik.“ Verschütte vor Schreck den Rest meines Milchkaffees, denn ich wußte nicht, daß Athletik eine Tugend ist. In der Hoffnung, die Kaffeelache möge sich während meiner Abwesenheit durch Verdunstung verflüchtigen, breche ich zu einer Radtour auf. Erstaunliche Erkenntnis, daß die Straßen im Schwarzwald mitunter ziemlich steil und die Berge auch relativ hoch sind, hatte ich nicht mehr so in Erinnerung. Entkräftungserscheinungen. Die Disneymäuse paradieren mir durch den Kopf. Zwei Wochen streiken sie jetzt schon, Teile des technischen Personals von Eurodisney hätten sich dem Arbeitskampf inzwischen angeschlossen, insgesamt 300 Personen seien im Ausstand. Schwindel bei der Ankunft am Gipfelrestaurant, wozu die dünne Luft hier auf 1.200m NN wohl ihren Teil beiträgt. Drei Pils, schnell getrunken, helfen mir wieder auf die Beine, beschwingt fahre ich zu Tale, schnell wie nie und voller Sympathie für die Euromäuse. Fester Entschluß ebenfalls zu streiken, falls meine Honorarforderungen abgewiesen werden. In einem Vorort, durch den ich radle, fällt mir „Pippig-Brillen“ auf, ein Optiker, bei dem man laut Schriftzug an der Ladenfront auch „Zeit + Schmuck“ erstehen kann. Schöner Zug, meines Wissens einzigartig in dieser Stadt. Werde mir also demnächst mal bei „Pippig-Brillen“ ein paar Jahre kaufen. Radfahren werde ich allerdings so bald nicht wieder. Diese elenden Berge hier! Krauche auf dem letzten Zahnfleisch nach Hause. Glück gehabt! Der Kaffee unter dem Küchentisch ist verdunstet. Schalte das Radio ein in der Hoffnung, neues aus Paris von den Streikmäusen zu hören, aber sie bringen nur die Meldung, daß Skorpione in Mexiko genau 1.227 Menschen gebissen haben, worauf ich mich frage, seit wann Skorpione bis 1.227 zählen können, und warum sie ausgerechnet bei 1.227 aufgehört haben und nicht bei 2.583. Ist 1.227 eine magische Zahl? Immerhin ist Skorpion auch ein Sternzeichen. Ich hätte noch Zeit bis zum Abendessen, könnte also zu „Pippig-Brillen“ hinausfahren und die Jahre sofort kaufen, nicht erst bei nächster Gelegenheit. Beim nächsten Bier kommen mir jedoch Zweifel, was den Verkaufspreis der Zeit bei „Pippig-Brillen“ betrifft, denn Zeit hat ja nicht nur ihren Selbstkostenpreis, sondern auch die Lagerung kostet natürlich was. Und dann will Herr Pippig ja auch daran verdienen. Da mir in dieser Phase des Zweifels das Bier ausgeht, entschließe ich mich gegen „Pippig- Brillen“ und für den Supermarkt um die Ecke. Dort angekommen, muß ich feststellen, daß er bereits geschlossen hat. Melancholie und Einsamkeit überfallen mich in dieser seltsamen Stadt, die so wenig zu verschenken hat. Entschluß, nie wieder Tagebuch zu schreiben.

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