Chipkarte: Die Freiheit nehm ich mir

■ Kaum ist die Chipkarte für Asylbewerber eingeführt, wird das neue System unterlaufen. Für eine "Provision" lassen sich Flüchtlinge bei Einzelhändlern Bargeld auszahlen. Kartenfirma bestätigt Praxis. So

Gerade einmal drei Wochen nach der Einführung der Chipkarte durch Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) wird das neue System bereits unterlaufen. In einigen Einzelhandelsläden, in denen AsylbewerberInnen per Plastikkarte einkaufen können, wird von den Ladenbetreibern ein Großteil des auf der Chipkarte gespeicherten Geldes abgebucht, die der Flüchtling dann in bar ausbezahlt bekommt. Der Laden behält im Gegenzug als „Provision“ durchschnittlich 15 Prozent der Summe. Mit dem Bargeld hat der Asylbewerber dann die Möglichkeit, im Geschäft seiner Wahl, also auch bei Discountern, einzukaufen.

„Bei uns hier machen das ganz viele“, sagt Hussein E., der in einem Neuköllner Heim lebt. Für die 2.100 in Heimen untergebrachten AsylbewerberInnnen, für die die Chipkarte gilt, ist das ein aus der Not geborener Deal. Weil sie nach dem „Sachleistungsprinzip“ nur noch bargeldlos einkaufen dürfen und an bestimmte Geschäfte gebunden sind, ist es für Hussein E. immer noch günstiger, dem Einzelhandelsbetreiber eine „Provision“ zu zahlen und dann woanders wesentlich billiger einzukaufen. E. zum Beispiel bekommt für seine sechsköpfige Familie monatlich 1.400 Mark auf seine Chipkarte für Lebensmittel und Hygieneartikel gespeichert. Er darf derzeit in 55 Geschäften einkaufen – in der Mehrzahl Edeka, Minimal und Extra. Außerdem sind rund 20 kleine Einzelhandelsgeschäfte beteiligt.

Marc Lützen, der Geschäftsführer der Münchner Kartenbetreiberfirma Infracard, bestätigte gestern den Handel mit den Geldwerten auf der Chipkarte. In den vergangenen Wochen, so Lützen, sei es bei der Abrechnung von einigen kleinen Läden tatsächlich „zu merkwürdig hohen runden Summen“ gekommen. So wurden mehrere Male Beträge von über 500 Mark abgerechnet. Er wisse bisher aber nur von 20 bis 30 Fällen. Lützen sieht allerdings nur „sehr eingeschränkte Möglichkeiten“, die Asylbewerber beim Einkauf zu kontrollieren: „Wir können die Läden nicht ständig überwachen.“

In der Tat ist das Verfahren unübersichtlich: Die Einzelhändler oder Ketten schicken die Abrechnungen an Infracard. Dort wiederum wird mit der Sozialverwaltung verrechnet. Es sei sehr schwer, eine falsche Abrechnung zu beweisen, so Lützen. Bei einigen sehr hohen Abrechnungsbeträgen habe Infracard sich jedoch bereits mit den betreffenden Einzelhändlern in Verbindung gesetzt. Diese hätten angegeben, die Rechnung sei so hoch gewesen, weil große Vorratsmengen in die Heime geliefert wurden.

Auch dem Flüchtlingsrat ist die Abrechnungspraxis bekannt. „Die Flüchtlinge sind dankbar, daß sie dann außer einem kleinen Taschengeld wenigstens ein bißchen Bargeld haben.“ – „Es ist jedoch eine Schweinerei, daß die Einzelhändler eine Provision erpressen.“

Die Sozialverwaltung zeigte sich gestern überrascht. „Wir haben davon noch nicht gehört, werden der Sache aber nachgehen“, sagte Michael Thiel, Referatsleiter des zuständigen Landesamtes für Gesundheit und Soziales. Infracard müsse den Läden noch einmal mitteilen, daß kein Bargeld ausgezahlt werden dürfe. Bei „konkreten Erkenntnissen über Mißbrauch“ müsse diesen Läden sofort gekündigt werden. Außerdem sei es auch denkbar, in den Wohnheimen selbst Überprüfungen vorzunehmen. Julia Naumann