piwik no script img

Wunder der 125sten Straße

Ella Fitzgerald, James Brown und Motown wurden im Apollo Theatre in Harlem berühmt. Die Rap-Stars von heute treffen sich lieber in Manhattans Lyricist Lounge  ■ Von Tobias Rapp

Mittwoch abend im Apollo Theatre in New York. Die weltberühmte Amateur Night steht auf dem Programm. Wilson Pickett, Sarah Vaughan, Dionne Warwick und Gladys Knight hatten hier ihre ersten Auftritte. Doch wen der Mythos des Apollo, das Zentrum afroamerikanischer Kultur zu sein, nach Harlem gelockt hat, der wird enttäuscht: Auf der Bühne steht zwar ein Conferencier, der springt jedoch mit japanischen Touristen über die Bretter und animiert das Publikum zu „Is Japan in the house? – Say Hooo!“-Rufen.

Zu einem Drittel kommen die Zuschauer aus Fernost, ein paar sind Europäer, und der Rest sind Schulklassen aus Washington oder Philadelphia – von überall, nur nicht aus New York. Genau wie die Künstler, die sich mit Whitney- Houston-Imitationen oder Gospel dem Urteil des Publikums stellen – im Apollo repräsentiert New York nur noch seine Vergangenheit. Das Theater steckt in einer Krise. Nicht nur künstlerisch, sondern auch institutionell.

Zwar wurde das Theater 1992 von einer gemeinnützigen Organisation übernommen, der Apollo Theatre Foundation, die es dann an die jeweiligen Betreiber vermietet. Doch das ehemalige Zentrum des afroamerikanischen Entertainments wird von Vorwürfen erschüttert, die das ganze Theater in Gefahr bringen könnten. Da sind Kredite nicht zurückgezahlt worden, die noch aus der Zeit des demokratischen Bürgermeisters David Dinkins stammten und für die die Stadt damals bürgte. Außerdem treibt die Theatre Foundation Mietschulden bei der Fernsehfirma des Ex-Apollo-Besitzers Percy Sutton nicht ein, und Sutton gilt als Parteifreund des Foundation-Vorsitzenden Charles Rangel, und zu guter Letzt sind die Unterlagen, die Schuld oder Unschuld des Apollo-Managements beweisen könnten, bei einem mysteriösen Bürobrand vernichtet worden.

Doch wo in New York kultur- historisches Pflaster in der Krise steckt, sind Disney und Time-Warner nicht weit. So war es bei der Umstrukturierung der Vergnügungsmeile am Time Square, wo die beiden Konzerne Millionen von Dollars investierten, um aus der runtergekommenen Peep- Show-Meile einen Vergnügungsboulevard für die ganze Familie zu machen. Mit der Konsequenz, daß der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani, um die Sex- Shops aus der Straße zu bekommen, kurzerhand für ganz Manhattan Richtlinien verabschieden ließ, die jetzt 90 Prozent aller Pornokinos, Oben-ohne-Bars und sonstiger Etablissements den Garaus machen. Und ähnliches haben die Konzerne mit dem Apollo vor. Zumal das Gespenst einer neuen Harlem-Renaissance durch die US- amerikanische Presse geistert.

Doch die wenigsten in Harlem wollen die Großkonzerne in die Community lassen, und so gibt es andere Pläne, die den Aufsichtsrat Apollo Theatre Foundation neu besetzen wollen: Und hier ist es vor allem Puff Daddy, Rap-Superstar und Chef von Bad Boy Entertainment, auf dem die Hoffnungen ruhen, dem Apollo zu neuem und zeitgemäßem Glanz zu verhelfen. Und das ist kein Wunder: Stand das Apollo doch jahrzehntelang für genau den Traum, den Puff Daddy als bislang letzter und ökonomisch erfolgreichster vorgemacht hat – der (afro-)amerikanische Traum, „es“ durch Entertainment „zu schaffen“. Nicht nur James Brown gelang hier mit seiner legendären Live-Aufnahme der Durchbruch, nicht nur Ella Fitzgerald wurde hier entdeckt, so gut wie jeder Swing-, Doo-Wop-, Bebop-, Soul- oder Funk-Musiker, der etwas galt, ist hier aufgetreten, im kulturellen Mittelpunkt der Hauptstadt des schwarzen Amerikas, in der 125. Straße in Harlem.

Friseurwettbewerbe statt Soul-Pracht

Der Mythos gehört jedoch der Vergangenheit an, und von sporadischen HipHop-Konzerten, Auftritten von Helden der Vergangenheit, wie den Delfonics, und Friseurwettbewerben läuft hier nicht mehr viel zusammen. Zwischen den Touristen und Schulklassen, die sich zur mittwöchlichen Amateur Night versammelt haben, braucht man nach Talentscouts gar nicht erst zu schauen. Wer als Künstler entdeckt werden will, spaziert nicht mehr mittwochs ins Apollo. Die A&R-Manager der Plattenfirmen treiben sich heute woanders herum: zum Beispiel bei der Release-Party der ersten Lyricist Lounge Compilation. Und die ist nicht in Harlem, sondern im „El Flamingo“, einem Club in der Lagerhausgegend auf der Westseite von Manhattan. Das Publikum ist relativ gemischt, wenn man davon absieht, daß sich etwa fünfmal mehr Männer als Frauen vor der Tür die Beine in den Bauch stehen.

Drinnen amüsiert man sich bei Video-Aufzeichnungen von alten Lyricist Lounges – und dann geht es los: Stundenlang gibt ein MC dem nächsten das Mikrofon in die Hand, bestimmt vierzig Rapper und eine Rapperin fegen im Laufe des Abends über die Bühne. Doch die unvermeidlichen Ermüdungserscheinungen, die sich in Deutschland schon nach einer Viertelstunde einstellen, bleiben hier aus: was für lyrische Skills. Ein MC ist besser als der nächste. Es wird gerappt, gefreestylt und ohne Begleitung der Hausband a capella weitergemacht. Daß mit Bahamadia aus Philadelphia der weibliche Headliner des Abends nicht auftreten kann, weil die Bodyguards sie nicht in den Club lassen, nachdem sie frische Luft geschnappt hat, ist da fast zu verschmerzen. Immerhin repräsentieren New York und seine fünf Boroughs, was das Zeug hält.

Die Lyricist Lounge ist ein, wenn nicht der einzige Ort, wo sich im Moment das kreative Potential von HipHop-New-York nicht nur zeigt, sondern auch gesehen und gehört wird. Die Erfinder und Organisatoren der Veranstaltung sind Anthony Marshall und Danny Castro, beide Mitte zwanzig. Der eine etwas größer und schneller, der andere kleiner, mit langen Dreadlocks und etwas langsamer. Mit endloser Geduld versucht er am Telefon einen ihm entfernt bekannten DJ dazu zu bringen, bei einer Party aufzulegen, obwohl sich einer seiner Kumpels aus nicht ganz ersichtlichen Gründen von den Lyricist-Lounge-Machern nicht mit dem nötigen Respekt behandelt fühlt. Rund um die beiden Schreibtische im 15. Stockwerk des New Yorker Hotels in der Nähe des Madison Square Garden werden die Sachen zusammengepackt und von einer Ecke in die andere geräumt. Kalodge Projects, das Unternehmen, das die Lyricist Lounge betreibt, zieht um. In größere Büroräume, einen Block um die Ecke. „Das Busineß läuft gut“, sagt Danny, sieben Jahre des langsamen Wachstums haben sich gelohnt.

Die Lyricist Lounge Legacy begann 1991. Damals 16 und 17 Jahre alt, zu jung, um in irgendeinen Club gelassen zu werden, organisierten Anthony Marshall und Danny Castro die erste Lounge in einem Appartement in der Lower Eastside. Zuerst kamen nur fünf Leute, beim nächsten Mal zwanzig, dann dreißig, und schließlich flogen sie wegen Lautstärkebeschwerden aus der Wohnung heraus. Und so landeten sie im ersten Club, dem „Muse“, zahlreiche andere Veranstaltungsorte folgten. Die Idee für die Lyricist Lounge war einfach: Wo es keinen Ort gibt, an dem unbekannte Rapper auftreten und ihre Fähigkeiten demonstrieren können, schaffen wir einen. Zunächst noch nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, rappt zuerst“, dann, als zu viele MCs das Mikro rocken wollten, nur nach vorheriger Anmeldung. Und 1993 fand die Lounge dann ihr bis heute beibehaltenes Format: Ein bekannter Rapper führt als Host durch den Abend – als erstes die Old-School-Legende Doug E. Fresh, der sporadisch auch als Conferencier im Apollo tätig ist.

Puff Daddy heißt der Pate von New York

Von KRS-One über die Jungle Brothers bis zu De La Soul und Kool Keith gab seitdem so gut wie jeder, der im Ostküsten-HipHop einen Namen hat, einmal den Gastgeber. Und neben zahllosen auch heute noch unbekannten Rappern hatte der heutige Superstar Foxy Brown hier mit 14 Jahren einen Auftritt – noch ohne Gucci- Kleid, sondern mit gänzlich unglamouröser Topffrisur –, und auch der mittlerweile erschossene Notorious B.I.G, spielte hier ein Set, bevor er Millionen von Platten verkaufte. Dabei trat er zusammen mit genau jenem Puff Daddy auf, der heute als Pate der New Yorker HipHop-Szene das Apollo retten soll. Doch für die beiden Lyricist- Lounge-Macher ist das, was in Europa oft Ausverkauf genannt wird und sich an Gestalten wie Puff Daddy festmacht, kein Problem. Im Gegenteil, sie haben eine Menge Respekt für den Bad-Boy- Entertainment-Chef, genau wie für den anderen HipHop-Mogul der Vereinigten Staaten, Master P. aus Louisiana, der Chef von No Limit Records, einer der gegenwärtig erfolgreichsten amerikanischen Plattenfirmen überhaupt. Respekt für ihre Fähigkeiten als Geschäftsleute wohlgemerkt. Denn weder das Puffy-Erfolgsrezept, HipHop so sehr auf gesampeltem Mainstream-Pop aufzubauen, daß es automatisch Pop wird, noch Master P.s Konzept, Gangsterrap zu machen, der so sehr auf die Essenz heruntergekocht ist, daß er in Europa mangels Absatzchancen gar nicht erst auf den Markt kommt.

Wofür sie stehen und was gerne unter dem Schlagwort Independent HipHop gehandelt wird, definiert sich eher über eine Haltung als über Ökonomie. Independent HipHop heißt, sich ohne musikalische Kompromisse über seine Fähigkeiten, seine Skills, zu definieren. Die Medien wollen dabei zwar anscheinend nicht mitspielen, für die Jungs ist es jedoch eine Möglichkeit, HipHop wieder kreativ aufzuladen.

In Zeiten, wo sich ein Großteil des New Yorker Nachtlebens in Lounges organisiert, nicht zuletzt, weil im Zuge der „zero tolerance“- Politik eine Reihe von Clubs geschlossen worden sind, und wo es eine zentrale Institution wie ehemals das Apollo-Theatre nur noch als Ruine gibt, scheint das Konzept einer ambulanten Lyricist Lounge, mal hier und mal da aufzutauchen und wieder zu verschwinden, die zeitgemäße Form zu sein, HipHop einen Ort zu geben.

V. A.: Lyricist Lounge Volume 1 (Rawkus/Groove Attack)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen