Fünf Mark für 35 Millionen

Plötzliche Eingebungen und wildes Kreuzeln: Die Chancen stehen 1:139.838.160, dennoch ist Hamburg im Lotto-Fieber  ■ Von Heike Dierbach

Jeanette Firni steht in dem kleinen Zeitungsladen und hat keine Ahnung. Angestrengt studiert sie die zwölf mal 49 Kästchen auf dem Zettel, den sie in der Hand hält. Sie weiß nur: „Die 35 Millionen will ich.“ Verkäuferin Ingeborg Schneider erkennt mit geübtem Blick die Erstspielerin. „In jedem Feld sechs Kästchen ankreuzen“, belehrt sie, „ein Feld kostet 1,25 Mark.“

Die Republik im Lotto-Fieber: Rund 100.000 HamburgerInnen, die sonst gar kein Vertrauen in die Kreuzerei haben, pilgern dieser Tage doch zum Kiosk um die Ecke, auf der Jagd nach dem 35-Millionen-Jackpot. Die Boulevard-Zeitungen titeln mit den magischen Zahlen, und selbst die Deutsche Presseagentur meldet mit einer Prioritäts-Kennziffer, die sonst nur Senatsbeschlüssen und Flugzeugabstürzen zukommt: „Lotto-Annahmeschluß bis Sonnabend 17 Uhr verlängert!“

Hausfrau Elfriede N. hatte nach dem Aufwachen „plötzlich Zahlen im Kopf – ein Zeichen!“ Graphikerin Frauke G. hofft auf ein Häuschen auf Malta und vielleicht je eine Wohnung in Paris und London. Aber sonst „würde sich gar nicht viel verändern“. Jan P. reizt „die Irrationalität“, denn die Chancen, den Jackpot zu knacken, stehen 1:139.838.160. Da ist es 140mal wahrscheinlicher, daß der Lottospieler von einem Blitz getroffen wird.

Jeanette kreuzt dennoch liebevoll ihr erstes Kästchen an: 11. „Ich habe mein Abi an Tisch 11 geschrieben“, erzählt die Pädagogik-Studentin. Dann die 19, „die ist so schön krumm“, die 35, denn „so alt ist mein Freund.“ 42, 46, 47 – das erste Feld ist voll. „Nur ein Feld bringt ja nix. Da ist die Chance zu gering“, sinniert Jeanette und gerät ins planlose Kreuzeln. Die 35 Millionen würde sie natürlich „umverteilen“, ein paar Millionen für das finanznotleidende Café Exil, ein paar an die Kampagne „Kein Mensch ist illegal“, und natürlich würden auch verarmte FreundInnen bedacht. „Für mich selbst etwas auszugeben, würde mich ganz schön überfordern. Ich bin doch auf 1600 Mark im Monat eingerichtet.“

„Also, ich finde, Geld wird wie Sex furchtbar überbewertet“, kommentiert Student Michael F. cool. Außerdem spreche die Statistik „sowas von dagegen“, Lotto zu spielen. Auch Profis wie Finanz-Senatorin Ingrid Nümann-Seidewinkel (SPD) ist die Gewinnchance zu klein. Und selbst wenn sie gewänne, „würde sie damit wohl kaum die öffentliche Kasse aufbessern“, verrät Pressesprecherin Renate Mitterhuber. Die Stadt kassiert eh knapp 40 Prozent der Überschüsse vom Nordwest-Lotto, 80 Millionen Mark im Jahr. Wozu da den Finger für Kreuze krumm machen?

Jeanette trägt ihren ausgefüllten Schein zur Kasse. „Das macht 5 Mark 50“, meint die Verkäuferin, „falls Sie gewinnen, müssen Sie am Montag mit der Quittung wiederkommen.“ Fünf Mark für 35 Millionen. „Das ist okay“, findet Jea-nette und hopst aus dem Laden: „Bis Montag dann!“