piwik no script img

Idylle jenseits der Dirndlkultur

Stimmungsvolle Landschaft, volkstümelnde Rentner: Das österreichische Kärnten ist nur in den Gipfellagen erträglich. Eine Hüttenwanderung auf dem Karnischen Höhenweg bietet nicht nur Alpenromantik, sondern auch Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg  ■ Von Ariel Hauptmeier

Wer sich zu einer Hüttenwanderung in Kärnten entschließt, muß mit dem Schlimmsten rechnen. Zum Beispiel mit einer Gruppe angeheiterter, aber rüstiger Rentner, die sich des Abends in die Brust werfen und fünf Strophen von „Warum ist es am Rhein so schön“ quer durch die Hütte singen. Nachts, im Matratzenlager, besteht jederzeit die Gefahr, daß man auf Fußschweiß-geschädigte junge Männer trifft, oder ältere, die derart ohrenbetäubend schnarchen, daß der eigene Schlaf einfach nicht kommen mag.

Wenn die Kellnerinnen dann noch blaue Dirndl und Rüschchenblusen tragen, die Männer am Nebentisch sich mit „Berg Heil“ zuprosten und der Blick schließlich auf ein Gedicht an der Wand fällt, daß auf die „Lumpen drunten im Tal“ schimpft und „Ehre sei Gott in der Höhe“ gelobt – dann beginnt man sich ernsthaft zu fragen: Was machen wir hier? Warum sind wir in Östereich? Warum diese einwöchige Hüttenwanderung auf dem Karnischen Höhenweg? Und warum sieben- bis neunstündige Fußmärsche, wo unsere einzige sportliche Betätigung sonst darin besteht, einmal pro Woche Fußball im Stadtpark zu spielen?

Aufbruch am Hochweißsteinhaus. Sechs Uhr, die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Wir holen unsere Wanderschuhe hinter dem Küchenofen hervor, putzen uns die Zähne an der Tränke im Hof und ziehen los. Die Beine haben den Marsch von gestern noch nicht vergessen, sind steif und wacklig. Unten im Tal läutet eine Herde Kühe, es ist kühl und still. Schweigend gehen wir durch nasses Gras. Dort drüben ein kleiner Alm-Hof. Ein Hund kläfft uns entgegen, Hühner stolzieren durch den Schlamm, die alte Bäuerin verkauft Milch. Weiter. Als die Sonne über die Bergrücken klettert, sitzen wir auf einer Blumenwiese und frühstücken. Und sind uns einig: Kärnten ist prima. Das ist die andere Seite des Hütten-Urlaubs: Wir gehen den ganzen Tag durch nette Landschaften, plaudern über das, was war und das, was kommt, und wälzen allerlei wichtige Gedanken. Gehen über Gipfel, Hochmoore, Geröllfelder, überqueren Bäche, schmale Grate, Hochplateaus, passieren Almen, Bergseen, verrottete Bauernhöfe. Auch wenn es zu regnen beginnt, die Blase am großen Zeh brennt und der Rucksack drückt: Es geht weiter.

Stolz und Erleichterung, wenn nachmittags in der Ferne die nächste Hütte auftaucht. Herunter mit dem Rucksack und erst mal ein Glas frische Buttermilch trinken. Dann die Schuhe hinter den Ofen stellen, eine der Matratzen auf dem Dachboden beziehen und ab unter die Dusche. Falls es eine Dusche gibt. Das ist in den wenigsten Hütten der Fall. Statt dessen hat man dort Waschtröge, nicht selten auf dem Flur. Doch mit der Zivilisation schwinden die Schamgrenzen, und so findet kaum jemand etwas dabei, vor aller Augen zu Waschlappen und Seife zu greifen und sich gründlich zu säubern.

Zum „Bergsteigeressen“ (meist Nudeln mit Soße) trinken wir ein bis mehrere Halbe, spielen Mau- Mau oder unterhalten uns mit den Tischnachbarn. Wir haben zwei Münchner Theologiestudenten kennengelernt, die von Wien nach Verona wanderten und deren Füße derart von vernarbten Blasen übersäht waren, daß es aussah, als hätten sie die Pocken; ein östereichisches Lehrerehepaar, das jeden freien Tag in den Bergen verbringt; oder einen alten Mann aus der Gegend, der erzählt, wie er als junger Bursche einmal nachts in den Berg stieg, um einen verletzten Freund zu retten.

Gegen zehn Uhr ist der Tag zu Ende. Angenehm erschöpft steigen wir nach oben, zwängen uns in den Hüttenschlafsack und breiten darüber eine kratzige Armeedecke. Nebenan ist eben ein wildfremder Mensch eingeschlafen – hoffentlich kein Schnarcher. Je voller die Hütte, desto näher liegt man nebeneinander. An Wochenenden legt der Wirt jeden freien Quadratmeter mit Matratzen aus, selbst Gaststube und Treppenhaus werden zu Schlafsälen.

110 Kilometer lang ist der Karnische Höhenweg, die meisten Wanderer wählen aber die 80 Kilometer lange Strecke von Hermagor nach Silian. Daß man den größten Teil des Weges auf einer Staatsgrenze wandert, daß links Östereich liegt und rechts Italien, hier Kärnten, dort Friaul, davon ist heute nichts mehr zu sehen. Wie heftig die Grenze einmal umkämpft war, zeigen aber die gezackten Gräben, die über die Plateaus laufen, oder die Felsstollen, die die Bergrücken durchlöchern. Reste aus dem Ersten Weltkrieg, ständige Begleiter auf dem Karnischen Höhenweg. Im Mai 1915 wurden die Karnischen Alpen zur Front. Österreich-Ungarn schickte zunächst Freiwillige in die Berge, Jugendliche und alte Männer aus der Gegend.

Nach acht Wochen trafen reguläre Truppen ein. Keine k.u.k. Gebirgsjäger, sondern Soldaten aus Ungarn, die bald an zwei Fronten kämpften: gegen die Italiener und das Wetter im Hochgebirge. Mit Hammer und Meißel wühlten sie sich in den Fels, bauten Laufgräben, Schützengräben, Kriegssteige und Geschützstellungen. Am Plöckenpaß versuchten die Italiener mehrere Mal den Durchbruch. Die Österreicher schlugen sie unter großen Verlusten zurück.

Ein steil abfallender Berg heißt dort bis heute „Maschinengewehrnase“, in der Nähe erinnert ein „Heldenfriedhof“ an Massengräber. 1975 griffen österreichische Soldaten, zusammen mit den Dolomitenfreunden und dem Alpenverein, erneut zum Spaten. Nicht in kriegerischer, sondern in touristischer Absicht. Sie befreiten die alten Kriegssteige vom Gestrüpp und erneuerten die Serpentinen im Fels. Bis dahin verwaiste Hütten bekamen neue Pächter, einige Unterkünfte baute man neu. Drei Jahre später war der Karnische Höhenweg fertig. In Erinnerung an seine blutige Vergangenheit erhielt er den Beinamen „Weg des Friedens“, „Via della pace“. Arbeiter fanden damals unzählige Utensilien aus dem Ersten Weltkrieg: Kämme und Pfeifen, eine zerschossen Uhr, eine von einem Bajonett zerfetzte Brieftasche, Zigarettendosen, eine Mundharmonika. Doch man fand auch Knochen, Rippen, Schädel, ja grub komplette Skelette aus dem Gebirgsboden. 80 Jahre nach Ende der Kämpfe stehen wir auf dem fast 2.700 Meter hohen Kinigat und versuchen uns vorzustellen, wie anstrengend es gewesen sein muß, die Pfähle der heute zusammengefallenen Stellung nach hier oben zu bringen. Wie die Soldaten Munition, Verpflegung, selbst schwere Geschütze mit Maultieren über den schmalen Grat hieften. Wie sie Monat um Monat hier ausharrten, hinter ihren Schießscharten standen, mit steifen Fingern ihre Gewehre umklammerten und darauf warteten, das sich im Tal der Feind zeigte. Wie am Plöckenpaß Hunderte Soldaten von den Geschützsalven zerrissen wurden.

Heute steht am Plöckenpaß die schönste Herberge der ganzen Tour, die Untere Valentinsalm. Wir sitzen auf der Kiesterrasse, trinken unsere Buttermilch und haben direkt vor uns das große 10.000-Teile-Alpen-Panorama- Puzzle: der Fluß, der Wald, die Felsen, der Himmel. Zwei kleine Mädchen kommen angerannt, grinsen verlegen und bringen die Speisekarte. Mit der Bestellung rennen sie zurück ins Haus. Und tragen nach einer halben Stunde stolz die leckersten Kärntner Nudeln von ganz Östereich auf. Den Kaiserschmarrn zum Nachtisch serviert die Köchin höchstpersönlich, eine freundliche Omi, die seit Jahrzehnten hinter ihren Pfannen steht. Die Nacht bricht herein, kühler Wind weht von den Bergen. Wieder einmal sind wir mächtig schwer, erschöpft und zufrieden. Gehen hinüber zur Scheune, klettern die schmale Stiege neben dem roten Traktor empor und fallen in Tiefschlaf.

Am nächsten Morgen kaufen wir frisches Brot von der Köchin, füllen unsere Wasserflaschen, legen den Kopf in den Nacken und schauen nach oben. Da ist er, der Rauchkofel! Acht Kilometer entfernt, 2.460 Meter hoch. Eigentlich nicht viel. Aber das ist immerhin doppelt so hoch wie wir. 1.200 Meter werden wir heute dem Himmel näherkommen. Bereits nach wenigen Schritten sticht die Morgensonne im Nacken. Jetzt heißt es: Nicht außer Atem kommen. Langsam gehen. Viel trinken. Ruhig einen Fuß vor den andern setzen, sich wieder dreißig Zentimeter in die Höhe stemmen. Und noch einmal. Der Schweiß tropft, die Lippen kleben, die Zunge reibt trocken im Mund. Stundenlang geht das so. Plötzlich sind wir oben. Erst mal umschauen. Wo ist die Herberge von gestern nacht? Ein kleiner weißer Punkt unten am Fluß. Mit einem Schlag sind Schweiß, Hitze und Trockenheit vergessen.

Für halbwegs sportliche Menschen ist eine Hüttenwanderung völlig ungefährlich. Verirren kann man sich praktisch nicht, auch bei dichtem Nebel findet man den Weg, spätesten alle vier Stunden erreicht man eine Notunterkunft. Quellwasser gibt es überall. Dennoch sterben rund 150 Menschen jedes Jahr in den Alpen, die Hälfte von ihnen an einem Herzinfarkt. Betroffen sind vor allem untrainierte Männer ab 40 mit Übergewicht. Auch wir erlebten, wie ein Herr, der morgens seine Freunde mit lauten Sprüchen zum Lachen brachte, am Abend als letzter in die Hütte wankte und sich dort leichenbleich auf einen Stuhl fallen ließ. Der Wirt begann sofort, ihm gezuckerten Tee einzuflößen. Am nächsten Morgen ist der Mann dann ins Tal abgestiegen.

An unserem letzten Morgen stehen wir auf dem Eisenreich, dem letzten Riesen unserer Wanderung, und wollen und wollen nicht absteigen. In den Tälern hängt Nebel, die Gipfel leuchten im Morgenlicht. Im Süden die Zacken der Sextener Dolomiten, im Norden schneebedeckte Dreitausender, Großvenediger und Großglockner. Wir können uns nicht losreißen. Noch ein letztes Mal um die eigene Achse drehen. Und noch einmal.

Zwei Stunden später stehen wir in dem kleinen Dörchen Kartitsch und fragen uns, warum sich alle Kärntner die gleichen häßlichen Häuser bauen. Weiße Würfel mit protzigen Holzbalkonen, über deren Schnitzwerk rote Geranien gucken. Schnell weg! Doch der Bus nach Hermagor geht erst in einigen Stunden. Also auf zur Durchgangsstraße und den Daumen raus. Nach zwei Stunden hält dann doch eine junge Frau, packt unsere Rucksäcke in den Kofferraum und gibt Gas. Oben fliegen die Gipfel vorbei. Nach anderthalb Stunden sind wir zurück in Hermagor. Für den Hinweg haben wir eine Woche gebraucht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen