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Im kalten Wasser der Begriffe

Denken ohne freundliche Lichter und Stützpunkte: Der Siegener Philosoph Friedrich Balke hat eine lohnende Einführung in das Werk von Gilles Deleuze geschrieben  ■ Von Elke Buhr

Während seine Kollegen Foucault, Lyotard oder Derrida trotz aller Postmoderne-Polemiken in Deutschland unbestritten zum akademischen Kanon gehören, ist Gilles Deleuze immer noch was für Spex-Leser, die ihren Sound ein bißchen rhizomatischer machen wollen: smells like Subkultur. Zu Unrecht, meint der Siegener Philosoph Friedrich Balke – ist doch Deleuze einer der größten Erneuerer der Philosophie dieses Jahrhunderts. Seit einiger Zeit versucht Balke beharrlich, die Deleuze-Rezeption auch in den hiesigen Habermas-hörigen Denkerschädeln anzukurbeln. Jetzt hat er in der Reihe Campus-Einführungen eine Monographie vorgelegt.

„Einführung“ heißt allerdings nicht, daß man hier das Werk des 1995 gestorbenen Pariser Denkers in gut verdaulichen Häppchen für Anfänger serviert bekommt. Für Deleuze, so Balke, bedeutete der Entschluß zu philosophieren, sich in das Denken hineinzuwerfen wie in einen uferlosen Ozean, in dem alle freundlichen Lichter, alle Stützpunkte ausgelöscht sind – eine Metapher, die von Hegel stammt. Nur daß Hegel von diesem Anfang aus wieder zu sinnstiftenden Wahrheiten gelangt. Deleuze aber will im unendlichen Ozean wohnen bleiben – auf der Ebene der Immanenz, sich von Insel zu Insel bewegend, ohne absolute Wahrheit und ohne die sichere Instanz eines Logos, der schon da war, bevor man überhaupt anfängt zu denken. Und wer Deleuze kennenlernen will, den wirft diese Einführung auch erst mal ins kalte Wasser der Begriffe. Das Schwimmen aber lohnt sich.

Deleuze' Werk läßt sich in drei Phasen einteilen. Es beginnt mit philosophiegeschichtlichen Monographien zu so unterschiedlichen Denkern wie Hume, Nietzsche, Kant, Bergson und Spinoza. Sie münden Ende der 60er Jahre in den Hauptwerken „Differenz und Wiederholung“ und „Logik des Sinns“. Gilles Deleuze versucht hier den systematischen Entwurf einer Differenzphilosophie, die im Anschluß an Nietzsche nicht nach dem Wesen oder Sein von Dingen fragt, sondern nach dem Werden: eine Seinslehre, die alle Dinge und Ereignisse nicht als feste Formen, sondern als das immer wieder veränderbare Ergebnis miteinander wetteifernder Kräfte versteht.

In den 70er Jahren trifft Deleuze den Psychoanalytiker Felix Guattari. Die beiden schreiben den „Anti-Ödipus“, eines der einflußreichsten Bücher der Nach-68- Zeit, danach den Band „Tausend Plateaus“; ein emphatischer Versuch, das Ich von den Zwängen der Identität, den Wunsch aus der Strangulation im freudschen ödipalen Dreieck zu befreien. Der kleine Band „Rhizom“ serviert dazu die passende Erkenntnistheorie. Das Rhizom, biologisch ein Geflecht von Wurzeln, wird zur Metapher für ein Denken in Netzen statt in hierarchisch organisierten Systemen. In den 80er Jahren entsteht dann die Studie zu Francis Bacon: Deleuze beschreibt hier eine Malerei, die nicht erzählt, sondern fühlt, die nichts repräsentieren, sondern Kräfte einfangen will. Und er schreibt die umfangreichen Werke zum Kino, in denen er anhand der Begriffe „Bewegungsbild“ und „Zeitbild“ eine philosophische Sehschule vorlegt, an der sich Filmwissenschaftler heute noch abarbeiten. Das letzte Werk von 1991, „Was ist Philosophie“, wieder zusammen mit dem 1992 verstorbenen Guattari, kann als eine Reprise des Frühwerkes gelesen werden – eine heitere Betrachtung über das Denken als „Kunst, Begriffe zu erfinden“.

Sagen, Sehen, Denken, Leben, Wünschen – anhand dieser Begriffe destilliert Balke aus diesen Werkgruppen die Grundzüge von Deleuze Denken heraus und versucht dabei, gängige Vorurteile und Mißverständnisse auszuräumen. Deleuze selbst hat seine Philosophie mal als „vitalistisch“ beschrieben – worauf deutsche Rezipienten ihm vorwarfen, irrational und vernunftfeindlich, kurz: gefährlich unmoralisch zu sein. Natürlich, so Balke, ist Deleuze ein Denker, der den Logos enttrohnt und für den nicht die diskursive Vernunft alle Probleme lösen kann. Und doch ist es gerade die Rückführung auf vereinheitlichende Prinzipien wie „Logos“, die totalitäre Züge hat und das Denken zum Stillstand bringt; das „Leben“, von dem Deleuze mit dem Begriff „vitalistisch“ spricht, protzt nicht mit seiner Kraft, sondern ist minoritär; es nistet in den Winkeln und Ritzen wie Unkraut.

Und für diejenigen, die Deleuze' Rhetorik des Minoritären und Widerständigen für kulturkritisches Mäkeln am kapitalistischen Prinzip vereinnahmen wollen, hat Balke in seiner Interpretation des Anti- Ödipus eine nette Pointe übrig: Nur die kapitalistische Geldwirtschaft ermöglicht für Deleuze die Verflüssigung der Zustände, die absolute Bewegung, die ihm so wichtig ist. Die Geldwirtschaft zerstört Ideologien und festverankerte Werte und macht so ein neues, freieres Denken möglich. Repressiv ist nicht der Kapitalismus an sich, sondern die Versuche, die entfesselten Ströme wieder in geordnete Bahnen mit Namen „Familie“, „Nation“, „Weltordnung“ usw. zu lenken.

Wer sich diese Deleuze-Einführung vornimmt, um endlich mal die Anspielungen auf „Deterritorialisierungen“ im Popkultur-Seminar zu verstehen, dürfte mit dem Bändchen Schwierigkeiten haben. Balke hat weniger den Ehrgeiz, die Begrifflichkeit von Deleuze zu erklären, als ihre Zusammenhänge und Kontexte zu zeigen und sie – überaus elegant – zu benutzen, frei nach dem Motto von Deleuze/ Guattari: Frage nicht, was ein Begriff bedeutet, sondern wie er funktioniert. Was Friedrich Balke hier vorgelegt hat, ist ein handlicher, gut strukturierter, extrem dichter Überblick über das Gesamtwerk und ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Denken, für das der Begriff der Differenz mehr als ein modisches Etikett ist.

Friedrich Balke: „Gilles Deleuze“. Campus Verlag, Frankfurt/Main 1998, 185 Seiten, 26,80 DM

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