Warten auf Karadzic

■ „Schussangst“: Dirk Kurbjuweit läßt in seinem zweiten Roman einen jungen Hamburger mit gutem Gewissen zum Mörder werden

Lukas Eiserbeck ist groß, von kräftiger Statur, macht seinen Zivildienst auf St. Pauli. Seit er mit acht Jahren beim Schlittenfahren einen Unfall hatte, trägt er eine 30-cm Narbe rund um den Kopf. Die hilft ihm 14 Jahre später, in ein Krankenhaus in Genf zu kommen. Dort schließt er sich in eine Toilette ein, baut sein Präzisionsgewehr zusammen und wartet auf Karadzic. Er wird ihn töten, den Mann, der für die Greuel des Bosnienkrieges verantwortlich ist. Lukas ist ein Sniper.

Dirk Kurbjuweit erzählt in Schussangst die Geschichte eines jungen Mannes, der sich entscheidet, das Elend des Balkankrieges auf seine Weise zu beenden. Eines Nachts hatte Isabella, seine große Liebe, geschrien: „Warum tut denn keiner was?“, als wieder eine Explosion die Fernsehübertragung verwackelte. Kein Ende der Bilder des Elends.

Eiserbeck besorgt sich eine Waffe, fährt zum Schußtrainig in die Elb-auen. Er lernt bei einem Söldner, der in Vukovar kämpfte, Atemtechnik und die richtige Stellung. Mit der Zeit, fast unmerklich, wird aus dem gutmütigen Hünen ein Mörder mit reinem Gewissen. „Das Gewehr hatte eine wunderbare Kraft. Es änderte alles.“

Das politische Attentat auf den Arzt, wie Eiserbeck Karadzic nennt, dient einem guten Zweck, da muß vom individuellen Menschen abgesehen werden. Das erinnert an Camus' Die Gerechten. Auch im Roman wird über das Buch gesprochen. Mit dem Polizisten Johannsen redet Eiserbeck über die Möglichkeit, das Unrecht zu töten, indem man eine Person liquidiert. Und die Zweifel, die einen Menschen befallen, der nicht zum Töten beschaffen ist.

Die Stärke des Romans ist die Wahl der Erzählperspektive. Konsequent bleibt er bei der Sicht der Hauptfigur Lukas. So entsteht das psychologisch brillante Porträt eines Suchenden, der zwischen Bilderstrom, Liebeskummer und Tatendrang nach einem Weg aus der Leere seiner Existenz tastet. Eine vielsträngiges Geflecht aus Persönlichem und Allgemeinem, präzise gewoben in klarer Prosa.

Dirk Kurbjuweit, der als Redakteur der Zeit arbeitet und in diesem Jahr mit dem rennomierten Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet wurde, hat in seinem ersten Roman Die Einsamkeit der Krokodile 1995 die Frage nach gesellschaftlicher Schuld am Todes eines Einzelnen gestellt. Schussangst stellt nun die Fragen des Bildungsromans, aber ohne die Sicherheit, damit auch wirklich irgendwo anzukommen. In den Elbauen wird mit echten Minen geübt, auf dem Kiez verdämmern die Alten und Schwachen in Einsamkeit, in Genf wird ohne Erfolg verhandelt, auf Kanal Vier tanzt die Clipgeneration, und Lukas' Pastorin, die mal Bundespräsidentin werden sollte, redet vom Pazifismus. Alles auf einmal. Gehirn-Zapping als einzige Antwort. Oder doch besser schießen?

Jörg Metelmann

Dirk Kurbjuweit: „Schussangst“, Roman, Fischer, Frankfurt/M. 1998, 319 Seiten, 39.80 Mark