Wir lassen schreiben: Heute kein Möller
■ Christoph Biermann hat die WM anders aufgearbeitet als andere – in Tagebuchform
Wie eine Fußball-WM wirklich war, ist mitunter schwer zu sagen. Klar ist, daß die handelsüblichen WM-Bücher vieles unterschlagen – zumeist das, was jenseits von Vogts und Beckenbauer passiert. Fußballexperte Christoph Biermann hat für die WM-Leibesübungen der taz berichtet und nun ein WM-Tagebuch vorgelegt, das einen internationalen Blickwinkel besitzt und über das selbst die strenge „Berliner Zeitung“ schreibt: „Er ist nah dran, ohne die Distanz zu verlieren. Die Texte sind witzig, ohne zwanghaft lustig sein zu wollen.“ Biermann bereiste Frankreich von Paris aus. Einmal machte er sich nach Nizza auf, um seinen taz-Kollegen im Arbeitsalltag zu erleben. In „Ein WM-Tagebuch“ findet sich sein erschütternder Augenzeugenbericht: „Im deutschen Lager“.
Einmal am Tag trifft sich das deutsche Lager in einer Turnhalle neben dem Stadion von Nizza. Die Halle ist durch einen Vorhang getrennt. Hinter dem Vorhang sind in Container- Schachteln eine Reihe von Büros eingerichtet. Vor dem Vorhang sind kleine Café-Tischchen aufgebaut, hinter ihnen eine Bühne, auf der Kameras stehen, und vorne, ein Stück entrückt, eine weitere Bühne mit einem langen Tisch. Links und rechts davon stehen große Leinwände, auf denen zu sehen ist, wer vorne am Tisch spricht. Dann steht da noch ein schwarzes Auto, eine Art Geländewagen von Mercedes-Benz, das nur zu Werbezwecken dorthin plaziert ist.
Die Insassen des deutschen Lagers treffen sich einmal am Tag. Sie haben unterschiedliche Funktionen. Es gibt Lagerinsassen, die Fußball spielen und davon erzählen, wie es darum gerade bestellt ist. Man kann allerdings nicht jeden befragen, der Fußball spielt, sondern nur jene, die auf die Bühne gesetzt werden. Das ist manchmal etwas unglücklich, denn vielleicht beschäftigt jene, die an den kleinen Tischchen sitzen, gar nicht, was der Fußballspieler oben an dem langen Tisch zu sagen hat. Aber es gibt halt nur die, alle anderen sind schon wieder in ihr Schloß zurückgebracht worden, das hinter einer hohen Mauer liegt und gut bewacht wird.
Die unten an den kleinen Tischchen sind Journalisten, und sie berichten über jene, die Fußball spielen. Sie schauen sich die deutschen Spiele an, manchmal auch das deutsche Training, und kommen einmal am Tag in diese Halle, denn viele Millionen Leser wollen schließlich wissen, was los ist im deutschen Lager. Das erfährt niemand wirklich, weshalb hinterher alle lustlos in den labbrigen Nudeln herumstochern, die sie geschenkt bekommen, weil der Koch der Spieler einen Sponsorvertrag mit einer Nudelfirma hat.
Dann kehren die Journalisten an ihre Swimmingpools zurück, klappen die Laptops auf und schreiben, was im Fachjargon eine „Geschichte“ genannt wird. Weil sie aber wissen, daß es keine Geschichte gibt, die sie zu erzählen haben, diskutieren sie heftig darüber, was denn die „Geschichte“ sein könnte.
„Ich mache heute die Möller- Geschichte“, sagt einer. Und der andere: „Die habe ich gestern schon gemacht.“ Der dritte will nichts mehr von Möller wissen: „Ich habe schon soviel Möller-Geschichten gemacht, ich habe die Nase davon voll.“ Am nächsten Tag, wenn ihre Leser daheim gerade zum Frühstück die Möller-Geschichte gelesen haben, oder eben nicht die Möller-Geschichte, sind die Journalisten schon wieder im deutschen Lager, bereit für die nächste Geschichte.
Das ist eine traurige Geschichte, aber wenigstens nicht so verschwitzt wie im brasilianischen Lager. Dort gibt es meistens nur Gedränge und dicke Männer, die den Spielern vor dem Training um den Hals fallen. Das verschafft ihnen einen gewissen Vorteil, wenn die Spieler wieder vom Trainingsplatz zurückkehren und sich ihnen Hunderte Mikrofone entgegenstrecken. Die dicken Männer stehen dann in der ersten Reihe, und die hinter ihnen haben schon Glück, wenn ihr Recorder überhaupt irgend etwas aufgezeichnet hat. Und wenn nicht, gehen sie trotzdem und schreiben eine „Geschichte“.
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