piwik no script img

„Dann lieber gleich ins Heim“

Pflegefamilien sind gut für Kinder. Doch oft zweifeln die leiblichen Eltern  ■ Von Judith Weber

Wenn Eltern neue Eltern für ihre Kinder aussuchen, wählen sie gern das klassische Modell. Heterosexuell sollten sie sein, solide in der Lebensgestaltung und möglichst liiert. Wer allein lebt, hat es schon schwerer, ein Pflegekind zu bekommen; für schwule oder lesbische Paare ist es beinahe unmöglich. „Rechtlich steht dem nichts im Weg. Aber die meisten Eltern wollen Familien, die der Norm entsprechen“, erklärt Karin Marchlewitz, die in Hamburg die Beratung für Pflegefamilien koordiniert.

Gemeinsam mit 20 MitarbeiterInnen betreut sie rund 1.000 Mädchen und Jungen, die vorübergehend nicht bei ihren Eltern leben. Wie Julia, die bei ihrer Pflegemutter wohnt, seit sie anderthalb Jahre alt ist. Ihre Mutter starb an einer Überdosis Heroin; der Vater kannte Julia und ihren Bruder kaum. Doch nun ist er wieder aufgetaucht und interessiert sich für die Kinder. „Jetzt müssen wir mal sehen, wie das weiterläuft“, wägt Marchlewitz ab. Zwar behalten die leiblichen Eltern das Sorgerecht. „Aber es geht ja darum, den Kindern ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.“

Das erklärt sie auch überlasteten Eltern, die ihr Kind trotz erdrückender Probleme nicht in eine Pflegefamilie geben wollen. „Dann lieber ins Heim“, sagen viele zu den MitarbeiterInnen des Jugendamtes. Denn die Ersatzeltern werden als Konkurrenz angesehen. „Viele empfinden sie als lebenden Beweis für ihr eigenes Versagen“, weiß Wolfgang Lerche, Mitarbeiter der Hamburger Jugendbehörde. „Sie fragen sich: Wieso schaffen die, was ich nicht schaffe?“

Zum Beispiel, weil sie nicht drogensüchtig sind, in einer Scheidung stecken oder die Wohnung verloren haben. Das alles können Gründe sein, die Kinder abzugeben, berichtet Lenore Wittig. Die Psychologin berät beim Hamburger Verein „Freunde der Kinder“ täglich Pflegefamilien. „Es ist völlig normal, daß man mit den Problemen nicht alleine klarkommt.“

Dabei muß die Ursache für die Schwierigkeiten nicht mal bei den Kindern liegen, weiß Lerche, und erzählt von einer Familie, die hoch verschuldet war. Das streßte die Eltern und wirkte sich auch auf die Kinder aus. Statt eine Pflegestelle oder gar einen Heimplatz zu suchen, besorgte die Behörde der Familie eine Schuldnerberatung.

Wenn Kinder bei ihren Eltern wirklich nicht mehr klarkommen, gilt es, Menschen zu finden, die zu ihnen passen. „Das ganze hat keinen Sinn, wenn man beim ersten Treffen schon denkt: Damit komme ich nicht klar“, sagt Lerche. Denn Pflegeeltern haben oft mit „Altlasten“ zu kämpfen, die Kinder mitbringen. Die meisten Jungen und Mädchen sind zwar nicht älter als neun, wenn sie von ihren Eltern wegziehen, „aber das sind ja kleine Persönlichkeiten“, berichtet Psychologin Wittig. Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft getrunken haben, leiden oft unter Konzentrationsproblemen, bei anderen „ist das Vertrauen in Beziehungen erschüttert“.

In solchen Fällen ist es oft schwer für die Mädchen und Jungen, zu ihren leiblichen Eltern zurückzukehren. „Sie haben anderswo Wurzeln geschlagen“, sagt Marchlewitz, „und auch die Familien haben sich auf ein Leben allein eingerichtet“. Sie erzählt von einem siebenjährigen Jungen, der quasi sein ganzes Leben bei Pflegeeltern verbracht hatte. Seine Mutter holte ihn zu sich zurück, als sie ein weiteres Kind bekommen hatte, und die Sache endete chaotisch: Die Frau schloß sich mit dem Kleinkind ein, weil sie Angst vor dem älteren Sohn hatten.

„Bei Pflegekindern können Krisen ausgeprägter sein als bei anderen“, weiß auch Lerche. Trotzdem sei „das Interesse der Hamburger groß“. Auf der Warteliste des Jugendamtes stehen rund 60 Haushalte, die gerne ein Pflegekind nehmen würden. In Abendkursen beim Verein „Pfiff“ lernen Pflegeeltern, was auf sie zukommen könnte. Der Verein „Freunde der Kinder“ bietet zudem Klönschnack-Abende an. Ganz zufrieden ist Lerche dennoch nicht: Im vergangenen Jahr landeten immerhin noch 80 unter Sechsjährige in Hamburger Heimen.

Weitere Informationen über Pfiff 29 12 84 oder „Freunde der Kinder“Tel.: 58 49 00

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen