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Ein verwilderter Grünstreifen als letztes Relikt

Die Spur der Mauer ist eine Angelegenheit für Spezialisten geworden: 37 Jahre nach ihrem Bau am 13. August 1961 sind fast alle Überreste verschwunden. Ein Kopfsteinpflasterband quer durch die Stadt soll künftig auf einer Strecke von zwölf Kilometern an die Grenze erinnern  ■ Von Jutta Wagemann

Leises Triumphgefühl. Da sind sie: von Farn und Gras überwachsen, quer übereinander, eine angekohlte Zeitung vom Grillen obenauf. Hier stand die Mauer, hier liegen die letzten Mauerreste. Die Indizien sind eindeutig. Ein paar Graffitireste, verbogene und verrostete Eisenteile, die aus dem Beton herausragen, das Gestein an vielen Stellen abgebröckelt. Von Mauerspechten abgeklopft.

Es bedurfte schon längerer Suche, bis die historischen Überreste gefunden waren. Mindestens hundert Meter dürfte dieser Streifen breit sein, mit üppigen, wuchernden Wildblumen und Gräsern entlang dem Teltowkanal. Auf dem Kiesweg führt ein Pärchen seinen Schäferhund spazieren. „Genau hier, wo wir stehen, war die Mauer“, bestätigen sie. „Aber schon ein Jahr nach der Wiedervereinigung war hier alles weg.“

Die beiden Radfahrer genießen die Sonne und die Ruhe. Kein Auto ist zu hören. Nur die Grillen zirpen, als müßten sie für die Gegend Reklame machen. Seit ein paar Jahren erkundeten sie das Berliner Umland per Rad, erzählt das Ehepaar. „Schließlich haben wir Nachholbedarf, zumindest, was den Osten betrifft“, sagt der Mann lächelnd.

Den Mauerbau haben die beiden Berliner selbst erlebt. Sie kamen von einer Reise wieder und wunderten sich über die Soldaten am Potsdamer Platz. Ihren üblichen Heimweg konnten sie am Abend des 13. August nicht mehr nehmen.

An den Rändern der Stadt stand jedoch keine Mauer, sondern ein Drahtzaun, erzählen sie. Ende 1989, als die ersten Löcher im Zaun waren, hätten sie sich mit ihren Rädern durchgequetscht. „Und auf dem Rückweg mußten wir an der Straße noch unseren Paß zeigen.“ Die Mauerreste sind also gar keine. Doch wenn es am Teltowkanal keine Mauer gab, woher stammen die Betonteile? Vom Fahrweg, vermutet der Radfahrer. Der war asphaltiert und so gemauert, daß er vom Westen nicht einsehbar war.

Mauerdetektive haben es schwer in Berlin. Im äußersten Norden und Süden weist wenigstens der breite Grünstreifen mit den niedrigen, noch jungen Bäumen auf den einstigen Verlauf der Mauer hin. Wo einst die DDR- Grenzer mittels chemischer Keule den Mauerstreifen peinlich von Unkraut sauberhielten, sind mittlerweile kleine Biotope entstanden. Geradezu ideal für Spaziergänger, Radfahrer und Jogger. Im Süden wird die Idylle jedoch bald verschwunden sein. Die Autobahn zum Flughafen Schönefeld wird genau entlang dem Teltowkanal führen.

Je näher zur Innenstadt, desto schwerer sind die Spuren der Mauer zu finden. Schon in Treptow ist das ein Kunststück. Irgendwo hier muß der Grenzübergang Sonnenallee nach Neukölln gewesen sein. Die Straße sieht auch fast neun Jahre nach dem Mauerfall noch frisch asphaltiert aus. Nichts weist auf das Monstrum des Kalten Krieges hin. Doch. Wer die Augen am Boden schweifen läßt, hat Glück. Zwei jungen Russinnen sei Dank. Die Mauer kannten sie zwar nicht mehr, dafür aber die zwei im Bürgersteig rechts und links der Straße eingelassenen Gedenktafeln: „Maueröffnung 9. November 1989 Treptow-Neukölln“.

Nach Treptow fahren inzwischen Touristenbusse, weil hier noch ein bißchen von der Mauer zu sehen ist. Ein paar Reste am S-Bahnhof Baumschulenweg und vor allem der Originalwachturm im Schlesischen Busch. „Museum der verbotenen Kunst“ nennt sich die Ausstellung etwas hochtrabend. Einen kleinen Eindruck vom DDR-Grenzsystem vermittelt sie dank der Fotos immerhin. Die Museumspförtnerin sitzt in einem kleinem Raum, in dem man sich kaum umdrehen kann. „Das hier war die Arrestzelle“, erzählt sie. Durch die Sehschlitze im ersten Stock blickt man auf türkische Frauen, die friedlich auf dem einstigen Todesstreifen grillen.

Wie und wo die Mauer erhalten? Nach heftigen Diskussionen wird heute die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße eröffnet. Die 180 Meter Mauer, die hier noch stehen, machen noch immer einen abschreckenden Eindruck. So hoch, so unüberwindlich war sie. Viele Ideen für die Markierung des Mauerstreifens gab es; sie alle sind am Martin-Gropius-Bau zu sehen: die Kopfsteinpflasterreihe, das in die Erde eingelassene Kupferband des Berliner Publizisten Gerwin Zohlen und die farbigen Betonstreifen der Künstlerin Angela Bohnen, die Vorder- und Hinterlandmauer markieren sollten.

Nach langem Hin und Her hat sich der Senat schließlich für die Doppelsteinreihe entschieden. Sie sei zurückhaltend und einfach, erklärt Karin Nottmeyer die Hintergründe der Entscheidung. Die Referatsleiterin Kunst im Stadtraum in der Bauverwaltung erzählt, daß der Senat vermeiden wollte, die Mauer durch eine Kunstaktion nachträglich aufzuwerten. Billig ist aber auch die schlichte Doppelsteinreihe – eine Idee des Bezirks Kreuzberg – nicht. 170 Mark pro Meter fallen dabei an. Auf einer Länge von zwei Kilometern gibt es das Band schon, weitere zehn Kilometer sind geplant, wie Nottmeyer erläutert. Macht insgesamt 17 Millionen Mark.

Die allseits bekannten Mauerreste in der Stadt können einen echten Mauerdetektiv kaum noch reizen. Die East Side Gallery hat bislang alle Bebauungspläne überlebt und ist nach wie vor Pflichtprogramm der Touristenbusse. Am Checkpoint Charlie und am Martin-Gropius-Bau wird es für Mauerspezialisten ebenfalls zu einfach.

Aber auf dem Weg dahin ist Beobachtungsgabe gefragt. Dunkle Flecken haben die entfernten Gitter rund um die Fenster an Häusern in der Zimmerstraße hinterlassen. Am Detlev-Rohwedder- Bau, dem künftigen Finanzministerium, haben die Bauarbeiter den hellen Strich an der Wand noch nicht getilgt: Die Mauer reichte direkt bis an das ehemalige Haus der Ministerien der DDR.

Die Touristengruppe am Potsdamer Platz guckt interessiert auf den Boden. Am Rande der großen Kreuzung hat sie sich zusammengedrängt. Aha, hier also: Kleine quadratische Eisenreste lugen aus dem Asphalt. 1961 wurde nicht direkt gemauert, erklärt der Touristenführer. Erst wurde ein Metallzaun errichtet. Die Französin blickt zu den verschiedenen Baustellen. Sie kann sich den Platz nicht mit Mauer vorstellen. „Das ist genauso unvorstellbar wie der Rummel hier in den zwanziger Jahren“, sagt sie ratlos.

Autos brausen über die Sandkrugbrücke. Nur die Straßenbahnschienen enden einfach so ein paar Meter vor dem einstigen Grenzübergang. Die ehemaligen Grenzübergänge sollen in einem Jahr alle künstlerisch gestaltet sein. Auf der Oberbaumbrücke kann man die Lichtinstallation bereits bestaunen. Die Knobelzeichen Schere, Papier und Stein hat der Künstler Thorsten Goldberg als Symbol für das niemals endende Spiel gewählt, das für unterschiedlichste Gefühle wie Hoffnung, Sieg und Niederlage steht. Je nach Betrachtung könnte man auch meinen, zwei Menschen wollten sich die Hände reichen.

24 Jahre war Günter Litwin alt, als er elf Tage nach Beginn des Mauerbaus versuchte, aus der DDR zu fliehen. Er schwamm durch den Spandauer Schiffahrtskanal. Und wurde von DDR- Grenzern erschossen. Auch ein DDR-Grenzsoldat kam hier ums Leben. Ihn traf die Kugel eines West-Polizisten. Die West-Polizei hatte den Auftrag, Flüchtende zu schützen. Zur Not, indem sie auf DDR-Grenzer schoß. Am Invalidenfriedhof erinnert eine Gedenktafel an beide Schicksale. Bis 1989 zwackte die Mauer den hinteren Teil des Friedhofs einfach ab, die Grenze verlief direkt am Kanal. Grabsteine, die die Sicht der Grenzschützer verstellten, wurden flach gelegt. Ein paar Mauerstücke stehen immer noch. Der Wachturm am „Kieler Eck“ ist mittlerweile jedoch völlig von Neubauten verdeckt.

Friedhöfe sind eine gute Adresse für Mauersucher. Auch auf dem Gelände des St.-Hedwig-, Dom- und Französischen Friedhofs in Mitte finden sich zwei Mauersegmente. Sie stehen nicht mehr am Originalplatz. Die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin verlief an der Ostseite der Liesenstraße, wo sich die Zugänge zu den Kirchhöfen befanden. Bis 1985 durften nur nahe Angehörige der Toten mit Grabkarte die Friedhöfe betreten.

Die drei Glocken rosten still vor sich hin, von wucherndem Gras umgeben. Mehr ist von der Versöhnungskirche in Mitte, die die DDR 1985 sprengen ließ, nicht übriggeblieben. Eine Kapelle mit sakralen Gegenständen aus der Versöhnungskirche, die erhalten sind, soll an dieser Stelle wieder entstehen. „Bis dahin“, mutmaßt eine Spaziergängerin mit Hund, „sind die Glocken längst verrottet.“

„Die Bösebrücke war am 9. November 1989 der erste Grenzübergang der innerdeutschen Grenze, an dem die DDR-Grenzschranken fielen.“ Überwältigende Szenen kommen beim Lesen der Gedenktafeln vors innere Auge. Menschenmassen strömten über die Bornholmer Straße, gleichzeitig weinend und lachend vor Glück. Und weiter südlich, an der Invalidenstraße, wartete ein ARD- Reporter immer noch darauf, daß die Grenze aufging.

Am S-Bahnhof Wollankstraße in Pankow wird es wieder gemütlich. Jogger und Radfahrer teilen sich den Kiesweg. Das Unkraut hat sich den Todesstreifen zurückerobert. Ein paar Türken packen gerade die Reste eines Flohmarkts zusammen. Weiter nördlich in Pankow öffnet sich der Weg. Ein breiter Bürgersteig läßt Kinderwagen und Radler bequem aneinander vorbeikommen. „Eigentlich hat sich hier nichts verändert“, erzählt die Frau, die ihren Kinderwagen genau auf dem Mauerstreifen entlangschiebt. Nur ein bißchen grüner sei es geworden.

Erst im Berliner Umland können Mauerdetektive ihre Lupe wieder einstecken. Vom Grenzzaun ist nichts geblieben als feiner Sand. Die Kiefern sind noch niedrig. Doch eine Schneise wie eine dicke Narbe schlängelt sich bis zum Horizont.

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