Der Strich ist überall

Kein realitätslüsterner Sozialreport: Stella Does Tricks mit der großartigen Kelly McDonald  ■ Von Christian Buß

Wäre die Welt doch bloß wie eine Geschichte von Charles Dickens! Dann wäre nicht alles gut, aber wenigstens wäre alles klar. Dann existierte das Böse nur, damit sich das Gute um so glorreicher Bahn brechen könnte. Und dann wäre Mr. Peters tatsächlich sowas wie ein guter Onkel. Oder ein böser Onkel, den man zumindest ganz schnell entlarvt. Der lügt nämlich wie gedruckt: „Ich bin wie eine Figur aus einem Roman von Charles Dickens. Ich kümmere mich um dich.“ Das sagt der distinguierte ältere Geschäftsmann, während Stella bei ihm im Park Hand anlegen muß. Für 15 Pfund und eine Tüte geschmolzenes Softeis.

Stella ist 15, Mr. Peters ihr Zuhälter, und Coky Giedroycs dazugehöriger Film Stella Does Tricks nimmt tatsächlich die eine oder andere Wendung wie ein Roman von Charles Dickens. Was aber weniger daran liegt, daß sich die Welt anfühlt, wie sich dessen Romane lesen, als vielmehr daran, daß Stella die Welt mit ihrer überbordenden Phantasie zu einem Roman macht. Zu einem recht witzigen.

So schiebt die minderjährige Prostituierte schon mal einem Fettsack von Freier einen Fisherman's-Bonbon in den Hintern – mit dem Versprechen, dies sei ein ganz unglaublich wirkendes Cannabis-Zäpfchen. Oder sie fackelt ihrem Vater, der sie in jungen Jahren mißbraucht hat, als späte Rache mit Feuerzeug und Spiritus das Gemächte ab. Oder sie übersät den gepflegten Vorgarten ihrer Tante, die sie einst in ein Erziehungsheim stecken wollte, mit aufgeblasenen Kondomen. Genugtuungen einer Gedemütigten – allerdings ohne Langzeitwirkung. Kurz vor Schluß läßt Stella sogar den allmächtig scheinenden Mr. Peters mit heruntergelassener Hose als Sittenstrolch verhaften – um dann ganz zum Schluß doch wieder anschaffen zu gehen, diesmal für ihren Freund.

Stella kann tun, was sie will, ihre Situation ist ausweglos. Der Strich überall. Sie trägt oft Zöpfe wie Pippi Langstrumpf, aber viele ihrer Sätze beginnen mit: „Als ich noch jung war...“ Stella hat alles gesehen, sie wurde von allen mißbraucht. So ist es eine Leistung, daß die Schottin Kelly McDonald, bekannt aus Trainspotting, Stella nicht als Opfer spielt, sich nicht als Erfüllungsgehilfin im realitätslüsternen Sozialreport hin und herschieben läßt. Sie läßt die minderjährige Prostituierte sich die Welt auf ihre Art und Weise einverleiben. Sie trickst und träumt um ihr Leben, und aus dem Off hören wir „This Is Mine“ von PJ Harvey. Eine Hymne auf die Selbstbestimmung, die in den Stundenhotels und Absteigen zwischen London und Glasgow klingen muß, wie sie eben klingt: elegisch.

Es geht auch immer um Respekt. Regisseurin Coky Giedroyc tastet sich in ihrer ersten Spielfilmproduktion behutsam zur Heldin vor; erst nach und nach erschließt sich das Psychogramm einer jungen Frau, für die Zuneigung und Ausbeutung kaum noch unterscheidbar sind. Stella Does Tricks wirft zotige Schlaglichter wie der vielgefeierte Trainspotting, um im Anschluß ruhige tiefenpsychologische Ausleuchtungen im Stil von John Cassavetes' großen Frauenporträts vorzunehmen. Und wir sind mit Stella, aber nicht bei ihr.

Do, 20. bis Sa, 22. August, 20.30 Uhr; So, 23. bis Mi, 26. August, 22.30 Uhr, 3001