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41 Prozent online für Gerhard Schröder

■ An der Wahlbörse im Internet werden politische Spekulanten zu Meinungsforschern

Sein Kreuz zur Wahl am 27. September darf noch niemand im Internet alleine machen. Aber zum erstenmal in der Geschichte Deutschlands ist es möglich, am Computer über Chancen der deutschen Parteien wenigstens zu spekulieren. Die Hamburger Zeit, der Tagesspiegel aus Berlin, die TU Wien und die Webdesigner von „Ecce Terram“ haben online eine Börse zur Bundestagswahl eingerichtet – unter dem sinnigen Namen „Wahl$treet“.

Unter der Adresse www.wahl street.de können fiktive Aktien der an der Bundestagswahl beteiligten Parteien gehandelt werden. Die Kurse spiegeln das augenblickliche Stimmungsbild im Lande so gut wider wie jede Meinungsumfrage, wenn nicht sogar besser. Am Montag um 18.32 Uhr notierte die CDU zum Beispiel mit 38 Prozent, bei der letzten Emnid- Umfrage lag sie bei 36,2 Prozent. Die SPD kam auf online 41 Prozent, bei Emnid auf 39,6 Prozent, Bündnis 90/Die Grünen lagen bei 6 Prozent (7,8 bei Emnid), die FDP erreichte 5 Prozent (bei Emnid 6,1), die PDS 4 Prozent (Emnid: 4,68), die sogenannten anderen, darunter die Rechtsradikalen, hatten 6 Prozent geschafft – bei Emnid 5,64 Prozent.

Die Website bietet alles, was ein Börsianerherz höher schlagen läßt. Sie zeigt den augenblicklichen Kurs, die Anzahl der Händler und der im Umlauf befindlichen Aktien, den Umsatz der letzten 24 Stunden, Höchststände, Tiefststände, absolute Kursschwankungen, prozentuale Kursschwankungen, die momentane Börsenaktivität. Und natürlich darf auch der zackige Chart nicht fehlen, der bei einer Partei steil nach unten sinkt, wenn sie sich mal wieder einen Fauxpas erlaubt hat. Die Wahlbroker werden bestens mit politischen Nachrichten aus verschiedenen Quellen versorgt und können sich die Umfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute ansehen – ein Service, der jeden Spekulanten alsbald zum beschlagenen Wahlforscher macht. Die täglichen Börsennachrichten werden sogar per E-Mail versandt. Trotzdem verlangt niemand Provisionen und Spesen. Jeder ist sein eigener Händler, meldet sich bei der Wahl$treet an und erhält seinen Namen samt Paßwort.

Abgerechnet wird allerdings erst am Ende. Das vorläufige amtliche Wahlergebnis bestimmt die Schlußkurse. Die Wahl$treet- Bank kauft dann alle Aktien zu diesen Kursen zurück. Dann wird sich für jeden Online-Broker zeigen, ob er ein guter Wahlforscher war oder nicht. Der Schaden ist in jedem Fall begrenzt. Mehr als 10 Mark dürfen auch hartgesottene Profis nicht einsetzen, vermutlich weil Zeit und Tagesspiegel dem Geschäft des Jahres einen Riegel vorschieben wollten. Man stelle sich vor, daß Gerhard Schröder für ein paar 100.000 Mark billige CDU-Aktien einkauft, um dann einen Tag vor der Wahl zu verkünden, daß er Sahra Wagenknecht heiraten werde. Danach könnte er sich die Bahamas für den Rest seines Lebens wohl allemal leisten. Gerhard Weinreich

G.Weinreich@bigfoot.de

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