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Das Ende des US-Puritanismus

■ Ein paradoxer Effekt von Bill Clintons Blamage könnte sein, daß er nach links rückt und tut, was er versäumte: soziale Reformen anschieben

Was Tschou En-lai einst über die Französische Revolution sagte, gilt auch für die jüngste Episode unserer nationalen Seifenoper, der Untersuchung der präsidialen Missetaten: Es ist noch zu früh zu sagen, ob sie erfolgreich war. In jedem Fall ist ungewiß, wie sie enden wird.

Clintons Rede an die Nation hat die Lagerbildung in der US-Öffentlichkeit bestätigt, womöglich verschärft. Wie zuvor sähe ein Drittel der US-Bürger gerne, daß er sein Büro lieber heute als morgen räumt. Die anderen zwei Drittel wollen von der ganzen Angelegenheit am liebsten überhaupt nichts mehr hören. Wie es aussieht, wird keiner der beiden Wünsche in Erfüllung gehen.

Fest steht, daß Clinton nicht wegen Meineids im Zusammenhang mit seiner Beziehung zu Monica Lewinsky angeklagt wird. Seine Aussage unter Eid im Fall Paula Jones war für nebensächlich erklärt, die Klage von der Richterin abgewiesen worden. Clinton bestreitet, daß er in diesem Fall oder vor der Grand Jury versucht hat, Einfluß auf Zeugenaussagen zu nehmen. Wenn er die Wahrheit sagt (woran bei ihm oft Anlaß zu Zweifeln besteht), fehlt die Grundlage für ein Amtsenthebungsverfahren durch den Kongreß. Zwar gibt es Probleme mit illegalen Parteispenden, doch diese fallen derzeit nicht in den Zuständigkeitsbereich von Sonderermittler Starr.

Weitgehend vergessen sind mittlerweile die restlos verwirrenden Vorwürfe, mit denen die Untersuchungen gegen Clinton begannen: Unregelmäßigkeiten bei Immobiliengeschäften in seinem Heimatstaat Arkansas, Jahre bevor die Clintons nach Washington kamen. Doch es geht im Grunde nicht um juristische Fragen: Die Starr-Untersuchung war von Anfang an ein politisches Verfahren mit klarem politischem Ziel.

Die Republikaner jubeln: Der Präsident ist blamiert, seine Autorität beschädigt. Allerdings sind die Republikaner eher unwillig, Clinton vor den Kongreßwahlen im November zu kippen, bei denen das komplette Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu bestimmt werden. Falls die Demokraten die Mehrheit im „House“ zurückgewinnen, die sie 1994 verloren und 1996 nicht wieder erobern konnten, wird der Fall beerdigt. Sollten die Republikaner gewinnen, werden sie ihren juristisch-politischen Guerillakrieg gegen den Präsidenten so lange fortsetzen, bis seine Amtszeit im Januar 2001 ausläuft.

Zu den zahllosen Paradoxien dieses Falles zählt, daß sich Clinton, zunehmend in die Defensive geraten, immer mehr auf den linken Flügel der Demokratischen Partei stützen mußte. Dazu gehören Repräsentanten der Schwarzen, die Frauenorganisationen, die Gewerkschaften und die verbliebenen Reste der kritischen Intelligenz. Noch vor einigen Jahren hatte Clinton sich mit seiner Kapitulation vor den Republikanern völlig zu Recht die Feindschaft dieser Gruppen zugezogen. „The era of big government is over“, hatte er damals erklärt, die Zeit des starken Staates sei vorüber. Heute ist der Zwist zwischen Clinton und dem linken Flügel weitgehend begraben. Denn gerade die Linke wurde zu Clintons entschlossenstem Verteidiger.

Vernunft, nicht Liebe bestimmen diese Heirat. Denn der Angriff der Republikaner auf die Präsidentschaft ist in Wahrheit ein systematischer Versuch, die Macht der einzigen nationalen Institution zu schmälern, die der Allmacht des Kapitals Grenzen setzen kann. Ein US-Präsident verfügt über enorme Macht – sogar wenn er mit gegensätzlichen Mehrheitsverhältnissen in Senat und Repräsentantenhaus arbeiten muß. Darüber hinaus kann ein Präsident in einer zerklüfteten Gesellschaft, die systematisch von den Massenmedien verdummt wird, im Alleingang eine Form von Gegenpädagogik entwickeln. Genau das taten die Reformpräsidenten dieses Jahrhunderts, Lyndon B. Johnson sowie Franklin und Theodore Roosevelt.

Die Republikaner versuchen derzeit auf zwei Ebenen einen künftigen New Deal oder ein Great-Society-Projekt unmöglich zu machen. Zum einen greifen sie den Präsidenten als Person an, zum anderen verfolgen sie ein Gesetzesvorhaben, das die Kompetenzen der US-Bundesregierung beschneiden soll. Ohne Zweifel haben Clintons politische Ambivalenz, seine Feigheit und seine totale persönliche Verantwortungslosigkeit den Republikanern dieses Vorhaben erleichtert. Clinton blieb kein anderer Weg, als die Nation um Vergebung für seinen schwachen Charakter zu bitten. Nun muß er sich wieder an die Arbeit machen – und zwar auf dem vergessenen, unbeackerten Feld der Sozialreformen.

Aus Roosevelts New Deal in den 30ern entwickelte sich damals die Demokratische Koalition: eine Allianz von Kirchen und Laienbewegungen, die den Typus des gesellschaftlich engagierten Bürgers verkörperte. Die Mehrheit der US- Bürger von heute, die Starr gerne zum Schweigen gebracht sähe und nicht mehr mit dem Privatleben des Präsidenten behelligt werden möchte, ist eine Art Wiederauflage, vielleicht auch eine Parodie der Allianz von einst. Diese Mehrheit der US-Bürger will, daß die weltliche Sphäre der Politik frei vom moralischen Absolutismus der fundamentalistischen Kirchen sein soll. Der Präsident ist in ihren Augen nicht der Pontifex maximus einer Kirche namens Amerika, sondern der Vorstandsvorsitzende der Amerika AG.

Dieser säkularen Mehrheit aus liberalen Protestanten, Juden und vielen Katholiken steht eine theokratische Minderheit gegenüber. Sie, die fundamentalistischen Feinde des Präsidenten, befinden sich im Krieg mit dem modernen Amerika. Ihre Wut wird angeheizt von der Ahnung, daß sie historisch zu den Verlierern gehören.

In einem haben die Fundamentalisten allerdings nicht ganz unrecht. Dem heutigen, säkularen Amerika mangelt es an der moralischen Kraft der großen Perioden unserer Vergangenheit. Die meisten US-Bürger sind womöglich deshalb so nachsichtig gegenüber Clintons Unzulänglichkeiten, weil sie von der Politik ohnehin nichts mehr erwarten. Diese Entpolitisierung fußt auf der wilden Privatisierung gesellschaftlicher Fragen – verstärkt wird sie durch die Fusion von Politik und Unterhaltung.

Ich schreibe diese Zeilen wenige Meilen von jenem Ort entfernt, Cape Cod in Massachussets, an dem die ersten Puritaner in Nordamerika landeten. Der öffentliche Widerwille gegen Starrs Untersuchung zeigt, daß die Tage des Puritanismus vorbei sind. Bisher gibt es nichts Wesentliches, was ihn ersetzt hätte. Norman Birnbaum

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