: „Ich fühlte mich wie Jesus Christus“
Eine Beratungsstelle für ehemalige politisch Verfolgte der DDR nimmt sich deren „posttraumatischen Belastungsstörungen“ an. Psychologen nehmen sich Zeit für Erlebnisse, die lange zurück liegen und noch immer präsent sind ■ Von Jutta Wagemann
Es war kein fester Entschluß. Nur ein Gefühl, eine innere Stimme, die ihm sagte: Geh dahin. Karl-Heinz Hartmann* folgte dieser Stimme. Er hatte Lieder von Wolf Biermann im Kopf: „Warte nicht auf bessere Zeiten, denn du wartest wie ein Tor.“ Das gab ihm den Antrieb. Im Februar dieses Jahres betrat Hartmann zum ersten Mal die Beratungsstelle Waldstraße in Moabit für ehemalige politisch Verfolgte der DDR.
Schon einmal hatte er Hilfe gesucht. Doch eine Psychotherapie scheiterte, weil der Psychologe „keine Ahnung hatte“, wie Hartmann heute sagt. Die gleiche Erfahrung machte er auf dem Versorgungsamt, wo er eine Rente beantragen wollte. Er solle seine Geschichte aufschreiben, verlangten die Beamten. Das schaffte Hartmann nicht.
Erst die Psychologen in der Waldstraße hörten sich die Erlebnisse des 42jährigen an, die 15 bis 20 Jahre zurücklagen. Ganz distanziert erzählte er, nur in der „man“- Form, als spräche er von einer anderen Person. Bis heute fällt es ihm schwer, von seiner Haftzeit zu berichten. Da stockt sein Redefluß, der vorher so munter plätscherte.
„Ich war ein Aktivist“, sagt Hartmann mit breitem Grinsen und lehnt sich im Sessel zurück. Wie die 68er im Westen hätten sie sich gefühlt. Anti-Akw-Bewegung, das war ihre Welt. Mit seinen Kumpels besorgte sich Hartmann Anfang der 70er Jahre heimlich Texte und Flugblätter aus dem Westen. Sie diskutierten über SS20 und Nachrüstung – Themen, die in der DDR unter Verschluß gehalten wurden. Ziemlich cool fand sich Hartmann damals, „so mit Jeans und langen Haaren“. Er lacht. Heute hat er noch ein kleines Zöpfchen.
Bei den harmlosen Diskussionen unter Freunden blieb es nicht. Karl-Heinz Hartmann nahm an größeren Treffen in einer Kirche in Potsdam teil und organisierte Demonstrationen. „Ich gehörte nie zu den Wortführern“, erzählt er, „aber im Hintergrund habe ich schon gewirkt.“ Zu den Demos – die stets nach wenigen Minuten von der Polizei aufgelöst wurden – kam er mehrmals zu spät und entging auf diese Weise einer Verhaftung. „Aber die hatten mich auf dem Kieker.“
Karl-Heinz Hartmann läßt den linken Arm lässig über die Rückenlehne hängen, die rechte Hand stützt er auf seine Beinprothese. Ja, es war eine besondere Zeit. Niemand wußte, wem man vertrauen konnte. Überall witterten sie die Stasi. „Ich sehe mich als Widerstandskämpfer“ – den Satz wiederholt er ein paar Mal.
Das Selbstbewußtsein, das Hartmann demonstriert, mußte er mühsam wieder erlernen. Von dem großen Mann mit dem frechen Lachen war nicht viel übrig gewesen, als er die Psychotherapie begann. Einmal in der Woche besucht er bis heute die Beratungsstelle, wo die Psychologin Reinhild Hölter tiefenpsychologische Gespräche mit ihm führt.
„Posttraumatische Belastungsstörung“ nennen Psychologen seine Krankheit. Karl-Heinz Hartmann hatte versucht, seine Erlebnisse im Gefängnis zu verdrängen, aber er konnte der Erinnerung nicht ausweichen. Ein Gesicht in der U-Bahn, das einem Stasi-Vernehmer ähnelte – und alles kam wieder hoch. Ein Glas zuviel, und er durchlebte alles erneut.
Obwohl ehemalige KZ-Häftlinge an vergleichbaren Psychosen leiden, war die „posttraumatische Belastungsstörung“ lange nicht bekannt. Erst 1980 wurde sie in den USA als Diagnosekategorie eingeführt. Inzwischen ist sie international anerkannt. Bei fast allen, die aus politischen Gründen in der DDR inhaftiert waren, kann man davon ausgehen, daß sie an dieser Krankheit leiden. Denn alle Gefangenen wurden massivem psychischen Druck, wenn nicht psychischer Folter ausgesetzt, wie der Vorsitzende des Verbandes politischer Häftlinge des Stalinismus, Wolfgang Becker, bestätigt. Im Schnitt gab es allein in den 70er und 80er Jahren in der DDR 4.000 politische Gefangene im Jahr.
Die Methoden der Staatssicherheit waren subtil. Sichtbare Spuren, etwa von körperlicher Folter, sollte kein Gefangener zurückbehalten. Am Anfang der Haft quälte die Stasi die Gefangenen mit Ungewißheit. Der Ausreiseantrag, den Karl-Heinz Hartmann Anfang der 80er Jahre gestellt hatte, war der Anlaß für seine Verhaftung gewesen. Wie lange er jedoch sitzen sollte, ließen die Stasi-Beamten völlig offen. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt war für ihn abgeschnitten. Seine Einzelzelle hatte statt eines Fensters Glasbausteine, einmal am Tag durfte er für 20 Minuten an die Luft. Täglich wurde er stundenlang verhört. Und er erfuhr scheinbar ganz nebenbei, daß seine Frau im gleichen Gefängnis saß, seine Tochter zu einer „Stasi- Tante“ gekommen war.
„Am Anfang war ick noch richtig jut druff“, erinnert sich Hartmann lächelnd. Eine harte Nuß sei er für die Stasi gewesen. Doch nach drei Monaten hatte ihn die Stasi geknackt. An Tagen mit Vernehmungen wurde Hartmann stets nach dem Mittagessen depressiv. Bei den Verhören hatte er dann nicht mehr viel entgegenzusetzen. Er ist sich sicher, daß ihm Medikamente ins Essen gerührt hat. Nachweisen läßt sich das nicht. Psychologin Reinhild Hölter hält es aber auch für sehr ungewöhnlich, mittags in Depressionen zu fallen. Mit Psychopharmaka jemanden gezielt depressiv zu machen, bestätigt sie, sei kein Problem.
Irgendwann nahm Hartmann gar nichts mehr richtig wahr. Bei jedem Buch, das er in die Hand bekam, suchte er fanatisch nach versteckten Botschaften. Einmal wurde er seiner Frau gegenübergesetzt und brach weinend zusammen. „Ich war verrückt“, sagt er heute. In einem DDR-Gefängnis war das fast ein Todesurteil. Hartmann wollte auf keinen Fall in eine psychiatrische Anstalt verlegt werden. Er riß sich zusammen.
1985 wurde er im Rahmen eines Gefangenenfreikaufes durch die Bundesrepublik nach West-Berlin entlassen. Auch seine Frau traf er dort wieder, ein halbes Jahr später kam seine Tochter. Zu dem Zeitpunkt lebte Karl-Heinz Hartmann nicht mehr in der Realität. „Ich fühlte mich wie Jesus Christus“, beschreibt er heute dieses Gefühl, über allem zu schweben. Er habe immer nur gelächelt. Der EDV- Techniker hatte Konzentrationsstörungen und konnte nur noch ganz einfache Arbeiten ausführen. Seine Umgebung merkte schnell, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Freunde wandten sich von ihm ab. 1989 zerbrach auch die Beziehung zu seiner Frau.
Kurz darauf fiel die Mauer. Die Euphorie um ihn herum ließ Hartmann kalt. „Die Arschlöcher kamen doch als erste rüber.“ Er mußte mit ansehen, wie schnell sich die Mitläufer wieder anpaßten, wie alte Seilschaften weiterhin funktionierten. Die alten Peiniger, wie Spionagechef Markus Wolf, hielten Autorenlesungen und wurden hofiert. Von den Opfern sprach niemand.
Das will Karl-Heinz Hartmann ändern. Er erzählt seine Geschichte wieder und wieder. Möglichst viele sollen auf „Fälle“ wie ihn aufmerksam werden. „Ich tu‘ das für meine Kumpels“, sagt er trotzig. Leicht fällt ihm das immer noch nicht. Aber den einstigen Kämpfer will er wiederbeleben. Schließlich geht es auch um seine Zukunft. Der arbeitslose EDV- Techniker wartet noch immer auf Entschädigung. „Wir haben doch gewonnen“, sagt er leise.
Seit kurzem hat die Beratungsstelle Waldstraße einen Ableger, wo sich Psychologen ausschließlich um politisch Traumatisierte der DDR- Diktatur kümmern: „Gegenwind“, Bredowstr. 36, 10551 Berlin, Tel.: 39879811/12
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