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Nerver mit Attitude

Nach Zeitgeistgesetzen dürfte es die Goldenen Zitronen gar nicht mehr geben – so schwer vermittelbar sind sie als Spätpunks auf dem Musikmarkt. Trotzdem haben sie eine neue Platte gemacht. Zielgruppe für „Dead School Hamburg“ sind „Loser und Normalos“  ■ Von Ulrich Gutmair

Hoyerswerda, Mölln, Solingen: Es gibt diesen blinden Fleck in der jüngsten deutschen Geschichte. Daß der anno 2010 in den multimedialen Geschichts-CD-ROMs von MSNBC – oder wie immer die entsprechenden Formate und Info- Konglomerate dann heißen mögen – mit kritischen Dateien aufgearbeitet sein wird, darf man kaum erwarten. Verläßlicher dürfte ein Blick aus der Zukunft in die Poparchive sein. In denen wird man auf „Das bißchen Totschlag“ der Goldenen Zitronen von 1994 stoßen.

Wenn Public Enemy das CNN der afroamerikanischen Unterklasse gewesen sind, war „Das bißchen Totschlag“ für einen kurzen Moment das ZDF der deutschen Gegenöffentlichkeit. Parallel zu den Songtexten versammelte das Booklet im Stil einer linken Infozeitung Analysen zum alltäglichen Rassismus.

Das programmatische Titelstück „Das bißchen Totschlag“ stellte einen Zusammenhang zwischen dem Mord an „anständigen Ausländern, steuerzahlenden Möllnern, fast wie du und ich“ und einem von Nazi-Skins in Berlin erstochenen Autonomen her, um dann tief ins Textrepertoire deutscher Schlager zu greifen: „Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um. Hier fliegen nicht gleich die Löcher aus dem Käse, sagt mein Mann.“

Der Videoclip zu dieser quasijournalistischen Form der Textcollage lief auf Viva: Beinahe hätte er es sogar in die Heavy Rotation geschafft, wären der Sound einer ausgeleierten Orgel und die Megaphonstimme Schorsch Kameruns nicht dann doch zu konsumentenunfreundlich fürs Nachmittagsprogramm gewesen. Und das ist eben der Punkt: Die Goldenen Zitronen nerven mit Attitude. Auf der Ebene ihrer Texte wie musikalisch. Und sie wollen einfach nicht verschwinden.

Dieser „Nervlevel“, erklärt Gitarrist Ted Gaier im Interview, sei neben der „Festlegbarkeit auf ein Soziales und ein Politisches“ denn auch das kontinuierliche Moment, das die Band seit 14 Jahren ausmacht. Angefangen hatten sie als Fun-Punks mit Schlagerfaible, die in ihrem Hamburger Hafenstraßenumfeld als „politisch unzuverlässig“ galten – woran sich Schorsch Kamerun anscheinend noch gern erinnert. Danach war genügend Zeit, sich von Degenhardt und HipHop inspirieren zu lassen und sich in Seiten- und Soloprojekten zu versuchen. Das alles auf der Basis eines Trash-Verständnisses, das immerhin so solide ist, daß es sowohl in Richtung No Wave ausgebaut werden kann – wie auf dem Vorgänger „Economy Class“ – oder eben als New Wave – wie auf der gerade erschienenen CD „Dead School Hamburg (Give me a Vollzeitarbeit)“.

Mehr Bandbus als Sattelschlepper

Heute scheint die Zeit ihnen mit offenen Armen entgegenzukommen – in Form des gerade laufenden Eighties-Revivals. Deshalb klingt „Dead School Hamburg“ mit seiner New-Wave-Distanziertheit, seinen HipHop-Beats und seinem Popverständnis so wunderbar nach 1998. Unter der Maxime „Plastiksounds“ mixt sich das alles unter elektronischen Oberflächen zusammen. Tatsächlich ist diese Platte vor allem ohne Techno nicht denkbar. Neben manuell in den Drumcomputer eingegebenen holpernden Beats und diversen elektronischen Sounds und Samples ihrer eigenen Platten gibt es nur dreimal Gitarren zu hören, und auch das fällt mehr oder weniger nicht auf.

Zugleich ist „Dead School Hamburg“ eine Reflexion über Techno. „98 Local Invention“ setzt sich mit handelsüblichem Cabrio- Techno auseinander und parodiert die Love-&-Peace-Rhetorik des zum Imperium angewachsenen Machertums von Love Parade und Mayday. Ansonsten bringt die „Dead School“ viel elektronischen Noise, der den Nervlevel der Zitronen für die Neunziger modernisiert – und damit wohl eher auf die Hate Parade abzielt als auf den Technowagen hinter dem Sattelschlepper.

Und natürlich sind die Zitronen in ihrer Aneignung von Elektronik auch alles andere als Tüftler oder Hacker. Mikropolitik auf der Ebene von schon sprichwörtlichen „elektronischen Lebensaspekten“, von Programmierungen, Rhythmen und Frequenzen findet sich kaum.

Anstatt auf dem Computer zu arbeiten, bevorzugt man als musikalisches Kollektiv dann doch das spezifische und spielbare Instrument – auch wenn es sich dabei um Drumcomputer und Synthesizer handelt. Ihr neuer Elektroniksound bleibt „Musiktransporter“ (Kamerun) für die Messages aus Zitronenland – nicht umgekehrt.

Kein Bestandteil sein (immer noch)

„Dead School Hamburg“ weiß, daß Pop in der Krise ist. In einer Welt, in der alles Pop ist, in der Begriffe wie „Guerilla-Marketing“ an der Tagesordnung sind, tut man sich schwer mit der Herstellung von Identität und Militanz. Insofern taugt diese Zitronen-Platte in ihrer gebrochenen, vielstimmigen, bei näherem Hinsehen distanzierten Poprhetorik auch nicht zur Identitätsstiftung, selbst wenn ihre Sounds und musikalischen Herangehensweisen hipper sind als die ihrer Vorgänger. Mit seinem immer wiederkehrenden Slogan „Zielgruppe Loser und Normalos“ beschreiben Mickey-Mouse-Stimmen in „Loser und Normalos“ das Dilemma: Wer ist hier eigentlich die Zielgruppe von was?

„Dead School Hamburg“ wäre nicht denkbar ohne eine Generation, die mit Kohl groß geworden ist, die einen hochdifferenzierten Blick auf Pop entwickelt hat, aber kein politisches Bewußtsein zu haben scheint: „Wir können frei sein von den Anderen / insgeheim und ganz allein können wir unter nichts sein / Wir können Einkommen und Arbeitspflichten / zum Leben haben mit dem Körper tragen / Wir können unterscheiden zwischen drinnen und draußen / weil wir einverstanden sind / Alles ist gut, Mutter“, heißt es in „Weil wir einverstanden sind“.

Die Zitronen sind eine altmodische Band in ihrem Festhalten an den grundsätzlichen Fragen. Im Titel „L'avance du millénaire“ geht man noch einmal dem allgemein hingenommenen Elend von ungefähr 80 Prozent der Weltbevölkerung in der Dritten Welt und den Dritte-Welt-Zonen innerhalb der reichen Metropolen nach. Kein sehr hippes Thema, aber immerhin ein Versuch, dieses Elend aus den Tränendrüsenabteilungen vorweihnachtlicher Medienaktionen zurückzuholen – und damit neu diskutierbar zu machen.

Trotz aller Fragezeichen hinter größeren Gruppenzusammenhängen und den individuellen Egoismen, die sich auch dort manifestieren, verstehen sich die Zitronen vor allem anderen als Kollektiv – oder als „Supergroup“, wie Ted Gaier das formuliert. Und sie könnten das nicht von sich behaupten, wenn nicht neben dem engeren Kern – Kamerun, Gaier und Hans Platzgumer – auch wieder Gäste zu Wort kämen. Eines der kryptischsten, aber an interessanten Anspielungen in Sachen symbolischer Politik reichste Stück ist „Yes, I am“, ein Beitrag des befreundeten Frauentrios Chicks on Speed aus München. Ebenfalls ins Zitronen-Universum integriert wurde ein Text Klaus Ramckes und Ted Gaiers, die zusammen im Seitenprojekt Les Robespierres spielen.

Bahnhofsmissionare unter sich

Es ist diese kollektive Vielstimmigkeit, die Zitronen-Platten ihre Komplexität und Autorität verleiht. Auch wenn nicht alle Statements von „Dead School Hamburg“ im selben Maß „wichtig“ oder schlüssig sind, versammelt diese Platte doch mehr musikalischen und textuellen „Content“, als man das von Popmusik heute erwarten dürfte. Auch Hanayo wurde vors Mikrofon gebeten, jene japanische Popsängerin, die während Christoph Schlingensiefs Verhaftung auf der letzten documenta von einem Polizeihund gebissen worden war.

Die Überschneidung ist mehr als ein Zufall. Wie Schlingensief sind die Zitronen durch ihre Trash- Phase gegangen, um am Ende wieder bei der Politik – und vielleicht bei einem veränderten Begriff von Pop anzukommen. „Der Christoph“ ziert inzwischen die Cover von Hochglanzmagazinen, und die „Dead School Hamburg“ liegt bestens distribuiert in jedem Plattenladen.

Deshalb kann Zitrone Ted Gaier mit den Robespierres – bei aller diffizilen Kritik, die man an Schlingensief haben kann – an dessen Hamburger Bahnhofsmissions-Projekt mitarbeiten. Und genau deshalb ist man auch zu tief im Trash verwurzelt, um auf irgendeine Weise politisch korrekt zu sein. Zu oft haben die Zitronen auf Plenen Rede und Antwort stehen müssen. Wahrscheinlich sind sie die einzige Band in diesem Land, die sich politisch in Selbstkritik üben mußte: „Diskussionen gab's immer“, sagt Schorsch Kamerun. „Manchmal richtig, oft Wahnsinn!“

Die Goldenen Zitronen sind Männer auf verlorenem Posten. Wohl nicht nur deshalb, weil sie als alternde Punks auf dem globalen Markt schwer vermittelbar sind, wie Klaus Walter anläßlich ihrer letzten LP vermutet hat, sondern weil das Modell des musikalischen Kollektivs „Band“ heute keinerlei Referenzen zu einer telematischen Arbeitswelt mehr besitzt. Eine Welt, in der sich der gemeine Lohnarbeiter als nomadisierter Textverarbeiter, HTML-Programmierer oder Graphiker manifestiert und in der das Lumpenproletariat aus massenhaft zu „Medienberatern“ umgeschulten Arbeitslosen besteht. Diesbezüglich agieren die Zitronen komplett von außen. Aus einer technologisch und sozial anders verfaßten Vergangenheit oder, je nach Perspektive: aus einer immer weiter gedachten Zukunft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet.

Letztere scheint noch nicht einmal mehr als Möglichkeit wahr zu sein. Deswegen gilt hier wie generell das Kamerun-Wort, das man irgendwo schon mal gehört hat: „Wir müssen hier raus. Wir alle müssen raus hier, eigentlich.“

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