■ Die politischen Rituale der Wettbewerbsdemokratie passen nicht mehr mit der heutigen Realität, dem Zwang zum Konsens, zusammen: Fad und museal
Ein paar Wochen vor seinem Ende läßt sich bilanzieren: Der Wahlkampf hat gehalten, was von ihm zu erwarten war. Die SPD hat in einem bemerkenswerten Akt der politischen Askese alles dem einen Ziel untergeordnet, im fünften Anlauf endlich wieder an die Regierung zu kommen. Die CDU hat es nicht vermocht, den Auseinandersetzungen einen politischen Stempel aufzudrücken. Das Wiederkäuen alter Positionen, von der Steuerreform bis zur inneren Sicherheit, entspricht weder einem drängenden Verlangen der Wähler noch dem Reformbedarf von Staat und Gesellschaft. Mit diesem Wahlkampf ohne Themen kann die SPD ganz gut leben. Ihr gelingt auch so, was die CDU nicht schafft: eine einfache, klare und durchgängige Botschaft an die Wähler, die da lautet: Es ist Zeit für einen Wechsel – der Regierung, nicht so sehr der Politik. Die SPD verspricht Kontinuität und ein bißchen mehr Gerechtigkeit.
Ein Wahlkampf geht bald zu Ende, der politisch wenig bewegt und doch viel verändert hat. Vor allem die SPD. In diesem Wahlkampf hat sich auf leisen Sohlen die Sozialdemokratie verabschiedet, wie wir sie kennen: als alte und ehrwürdige deutsche Mitglieder-, Funktionärs- und Programmpartei. Sie hat keine Rolle mehr gespielt bei der Frage, wer möglicherweise der nächste sozialdemokratische Kanzler sein wird. Noch nie vor einer Wahl waren Programm und Beschlußlage von so geringer Bedeutung.
Nicht durch politische Anstöße, sondern durch Personalvorschläge, die, von Walter Riester einmal abgesehen, alles andere als aufregend waren, hat Schröder das System SPD von innen noch zusätzlich unter Spannung gesetzt. Aber auch dieses Manöver wäre nicht so erfolgreich gewesen, wenn nicht die Gralshüter der Orthodoxie so kooperativ mitgespielt hätten: Die schrillen Kommentare der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden erst haben den Eindruck verstärkt, man habe es tatsächlich mit einer neuen SPD zu tun, obwohl sie keine einzige der großen Fragen geklärt hat. Politik stört nur eine erfolgreiche Kampagne. Diese Lektion hat die SPD begriffen. Wenn sie mit diesem Politikverzicht Erfolg hat, wird sich dies tief in das kollektive Bewußtsein der Partei einprägen. Sie wird nie mehr sein, was sie einmal war.
So viel Disziplin hat die Unionsparteien kalt erwischt. Im Wahlkampf haben sie noch einmal bestätigt, was in den vier Jahren der Legislaturperiode angelegt war: Weil ihnen die Kraft für den einen Wechsel (von Kohl zu Schäuble) fehlte, haben sie den anderen Wechsel (von Kohl zu Schröder) vermutlich erleichtert. Die CDU/ CSU hat es nach 1996 versäumt, ein personelles und politisches Angebot zu präsentieren, das nach der langen Kanzlerschaft Kohls wenigstens den Eindruck eines neuen Anfangs hätte machen können, Kontinuität und Erneuerung verbindend, wie es ja jetzt die SPD wenigstens verbal versucht. Eine Partei, die sechzehn Jahre regiert, muß den Wählern politische Gründe geben, warum sie es noch einmal machen soll. Es ist diese Lektion, die die CDU/CSU nicht begriffen hat. So läuft sie nun Gefahr, bald aus einer Position der Schwäche heraus über neue Personen und Politiken nachdenken zu müssen.
Bündnis 90/Die Grünen schließlich stehen kurz vor der Wahl nicht nur in den Umfragen schlecht da. Fast eine halbe Legislaturperiode lang haben sie mit Joschka Fischer den eigentlichen Oppositionsführer gestellt. Eine ganze Legislaturperiode lang haben sie erfolgreich daran gewerkelt, in der Steuer-, Umwelt- und Rentenpolitik sachliche Kompetenz und damit Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. Doch über den vielen Details haben sie vergessen, sich zu fragen und den Wählern zu sagen, was eigentlich ihr politisches Angebot sein könnte jenseits der alten („Keep Kohl!“) oder neuen („Arbeit, Auto, Arbeit!“) Weiter-so- Devisen. Nachdem das Umweltthema im engen Sinne sich in fast alle Parteien verallgemeinert und zudem durch andere Themen spürbar Konkurrenz bekommen hat, hätte es Aufgabe und Chance der Grünen sein können, eine politische Ökologie im weiten Sinne zu formulieren, wie ein Leben, eine Gesellschaft aussehen könnte jenseits der alten Sicherheiten. Dazu ist es nicht gekommen. Dieser Politikverzicht war, wie bei der SPD, aus der Angst geboren, daß dann, je härter man politisch am Wind segelt, der ganze Kahn kentert und einige über Bord gehen. So warten Bündnis 90/Die Grünen nun so gespannt wie ratlos auf den Tag der Entscheidung und hoffen darauf, daß eine Regierungsbeteiligung sie aus ihrer Misere befreit.
Die politischen Parteien haben wenig getan, um diesen Wahlkampf zu einem lustvollen politischen Spektakel werden zu lassen. Aber liegt die Langeweile, die sie verbreiten, nur an ihnen? Gewiß, noch nie hatten die Wähler bei einer früheren Bundestagswahl die Chance, so viel zu bewegen wie am 27. September: einen Kanzler aus dem Amte zu jagen oder ihn wider alle Prognosen zu bestätigen; unmittelbar einen Regierungswechsel herbeizuführen; nur zwei oder gar sechs Parteien ins Parlament zu wählen. Aber auch noch nie konnten die Wähler so wenig wissen, was sie eigentlich wohin bewegen, wenn sie etwas bewegen.
Der Wahlkampf ohne Thema macht einen Widerspruch offenbar, der sich zur Krise des politischen Systems ausweiten könnte: Die Rhetorik des Wahlkampfes, die Illusion eindeutiger Alternativen steht in keinem Verhältnis mehr zu dem faktischen Zwang zum Kompromiß, wie er im deutschen Föderalismus, Korporatismus und Koalitionsregime grundsätzlich angelegt ist. Die Rituale der Wettbewerbsdemokratie und die Realitäten der Konsensdemokratie passen nicht mehr zueinander. „Richtungsentscheidungen“ waren plausibel, als es noch Kulturkämpfe und Klassenkämpfe, den Sozialismus und einen Ost- West-Konflikt gab. Die politischen Rituale, Rhetoriken und Aufmärsche, die in jenen Zeiten ihren Ursprung haben, beherrschen noch immer die politische Bühne. Das wirkt etwas fad und museal. So betrachtet, hat der Wahlkampf ohne Thema durchaus seinen eigenen Sinn und seine eigene Botschaft.
Es ist ausgereizt, was lange spannend war. Gerhard Schröder und seine SPD haben das besser begriffen als andere. Sie haben die Bühne leergeräumt von allem, was sie für Relikte von gestern hielten. Wie Hans im Glück lernen sie, daß leichter ans Ziel kommt, wer ideologischen Ballast abgeworfen hat. Das Problem ist nur, daß auch der beste Wahlkampf einmal zu Ende geht. Spätestens dann meldet sich die Politik zurück und verlangt nach einem neuen Drehbuch. Warnfried Dettling
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