■ Querspalte: Helm auf!
Jede Zeit hat ihre Zeichen. Zur Betonung ihrer Trauer über das grundsätzliche In-die-Welt-Geworfen-Sein des modernen Menschen und seine Heimatlosigkeit kleideten sich die Existentialisten gerne in schwarze Rollkragenpullover. Überhaupt sind die Symbole der Epoche häufig Ausdruck der individuellen Betroffenheit den übermächtigen Verhältnissen gegenüber. So adaptierte die Friedensbewegung der 80er Jahre die sanfte Farbe Lila und trug ihre Halstücher wie Kruzifixe, um den Einschlag der Cruise-Missile zu verhindern. Heute nun hat der gelbe Bauhelm gute Chancen, zum Signum einer Ära zu avancieren. Dieses Accessoire dürfte sich mit dem heutigen Konzert der Rolling Stones im Olympiastadion zum prägenden Kleidungsstück in der Periode des spontanen Dekonstruktivismus entwickeln.
Denn während der vergangenen Tage wurden in der Arena die Verkleidungsplatten aus Muschelkalk von der Haupttribüne entfernt. Durch den Schallsturm der britischen Rentnerband hätten sich sonst möglicherweise Teile davon selbständig gemacht und wären dem ebenfalls betagten Publikum auf die Köpfe gefallen. Da man schon weiß, daß das tausendjährige Stadion eine Bruchbude ist, der eigentlich nur noch mit Abriß beizukommen ist, erscheint um so unverständlicher, warum der Katastrophenschutz keine allgemeine Warnung ausgesprochen hat. Aber die selbstorganisierte Bevölkerung wird auch ohne Hinweis auf die Idee kommen, jetzt mehr und mehr Helm zu tragen. Weil es jeden treffen kann, ist auch jeder betroffen. Von Verhältnissen wie von Trümmern. Nicht zu übersehen ist nämlich, daß die Halbwertzeit gewisser Gebäude bedenklich abnimmt. Berechnete sich die Haltbarkeit architektonischer Höchstleistungen früher nach Jahrhunderten (Pyramiden, Ritterburgen), sind es jetzt nur noch wenige Monate: siehe Kaufhaus Lafayette. Dort prallte vor zwei Wochen ein Teil der Glasfassade auf die Straße. In den Zeiten einstürzender Neubauten ist der Bauhelm das Symbol der Großstadt. Hannes Koch
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