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„Rußland durchlief nur eine Scheintransformation“

■ Paul Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Potsdam, über notwendige Reformen in Rußland und das Scheitern des IWF

taz: Herr Welfens, zur Bekämpfung der Krise in Rußland schlägt eine Kommission aus Parlament und Regierung jetzt vor, Schlüsselindustrien wieder zu verstaatlichen und die Geldpresse anzuwerfen. Ein Rückschritt oder ein Schritt in die richtige Richtung?

Paul Welfens: Es ist vielleicht ein unvermeidlicher Anfang. Es gibt eine Reihe von Ländern, die mit lockerer Geldpolitik, also mit 20 bis 30 Prozent Inflationsrate, auf über 5 Prozent Wachstum kommen. Nehmen sie etwa die Türkei oder Polen vor drei Jahren. Aber das Entscheidende ist, daß der Strukturwandel in Gang kommt. Das fordert der IWF ja auch. Aber obwohl sich Rußland an seine Rezepte gehalten hat, ist es in die Krise gerutscht.

Ein Teil der Krise ist doch vom IWF mitverschuldet worden. Rußland hat nur eine Scheintransformation durchlaufen. Der Fonds hat Kennziffern wie Haushaltsdefizit und Inflation vollkommen überbetont. Rußlands Hauptproblem aber ist der Mangel an Wirtschaftswachstum. Der IWF hat verkannt, wie wichtig es ist, die Menschen zu mehr Leistung zu motivieren. Und das geht eben nicht, wenn der Staat nicht mal die Löhne auszahlt.

Hat die Bundesregierung also recht, wenn sie weitere westliche Hilfen mit dem Argument ablehnt, Rußland müsse erst einmal die Voraussetzungen schaffen, daß Reformen greifen können?

Deutschland hat sich finanziell durchaus großzügig engagiert. Viel besser wäre gewesen, wenn man Rußland beim Aufbau eines Rechtsstaats und einer funktionierenden Finanzverwaltung geholfen hätte. Statt dessen hat man immer den IWF vorgeschoben.

Und trotzdem ist Ministerpräsident Tschernomyrdin losgefahren, um vom IWF die Auszahlung weiterer Gelder zu erbetteln.

Im Moment hat er wahrscheinlich keine Alternative. Ich denke aber, man sollte viel mehr Kompetenzen vom IWF zur Osteuropabank verschieben. Die IWF-Leute sind viel zu sehr mit Zahlungsbilanz- und Haushaltszahlen beschäftigt und übersehen die eigentlichen Probleme. Und die liegen in der Wirtschaft.

Alle reden angesichts der Kursstürze von Währung und Aktien von einer Finanzkrise. Handelt es sich aber nicht vielmehr um eine politische Krise?

Der Kern der Krise ist sicher eine politische Ratlosigkeit auf der einen Seite und der Mangel an vernünftigen Reformen in den Finanz- und Arbeitsmärkten auf der anderen Seite. Die Finanzkrise ist aber nicht zu unterschätzen. Das Finanzsystem ist die Achillesferse jeder Marktwirtschaft. Wenn es zusammenbricht – und das kann man nicht ausschließen –, dann wird es sehr schwierig.

Wie kann die Regierung den Kollaps verhindern?

Es muß alles versucht werden, den Finanzsektor zu stabilisieren. Die Regierung sollte sich um die Einbindung ausländischer Banken bemühen. Aber der Verfall der Währung kann nur durch ein Signal aufgehalten werden, daß dahinter ein zweites Programm anläuft, das die reale Wirtschaftsentwicklung voranbringt.

Wenn Sie zum neuen Ministerpräsidenten Rußlands berufen würden, was wären denn die ersten Schritte Ihrer Regierung?

Man muß beginnen mit der Schaffung eines Rechtsstaats, in dem vor allem der Staat selbst seine Verpflichtungen einhält. Dann muß man das russische Bankensystem auf neue Grundlagen stellen mit einem Einlagensicherungssystem und funktionierendem Wettbewerb. Und man müßte überlegen, tatsächlich einen Teil der schon erfolgten Privatisierungen rückgängig zu machen und neu anzugehen. Wenn die Menschen ähnlich wie in Tschechien Eigentum an Investmentfonds erhalten, könnten sie endlich auf steigende Gewinne hoffen. Nur mit dieser Hoffnung werden sie die Geduld aufbringen, es mit der Marktwirtschaft noch einmal zu versuchen. Interview: Nicola Liebert

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