: Tischgespräche
Dialoge und Monologe aus der Suppenküche ■ Von Gabriele Goettle
Wenn von der Arbeitslosigkeit, von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die Rede ist, geht es fast ausschließlich um die Kosten, die sie verursachen. Das Problem, nebenbei bemerkt, sind aber gar nicht so sehr die Bedürftigen. Einen Großteil der Kosten verschlingen nicht sie, sondern ein riesenhaft aufgeblähter Bürokratenapparat, der nichts anderes tut, als prüfen, erfassen und verwalten, was bereits unabänderlich feststeht: die Bedürftigkeit der Anspruchsberechtigten. Daß durch die Arbeitslosigkeit und den anachronistischen Umgang damit, auf die Gesellschaft weit Ärgeres als ein ökonomisches Problem zukommt, davon hört man kein Sterbenswörtchen. Mit gefaßtem Bedauern wird die Stillegung und totale Verkümmerung von mehr als einem Fünftel der Bevölkerung „im arbeitsfähigen Alter“ registriert und kommentiert.
Die Ausgesonderten sitzen derweil mit all ihren Fähigkeiten und Kenntnissen in vollautomatischen Haushalten herum, die ganz auf Berufstätige zugeschnitten sind, und nichts zu bieten haben an Herausforderung oder gar Subsistenzmöglichkeit. Das Fehlen von kollektiver Zusammenarbeit, Erfahrung, Verantwortung, Auseinandersetzung und Klatsch, führt zum Absterben der sozialen Intelligenz, macht die versprengten Subjekte fett, depressiv, stupide, erstickt sie in Ohnmacht und Ressentiments. Was wird man sagen, wenn eines Tages die Aus- und Abgeschiedenen aus ihren Wohn- und Fickzellen treten und nicht mehr imstande sein werden, ein Gespräch zu führen, einen Konflikt zu vermeiden oder friedlich zu lösen?
Ganz anders verhalten sich die Dinge in der Suppenküche, sie hat geradezu Avantgardefunktion, wenn auch unfreiwillig. Hier wird praktiziert, was es heißt, jenseits von Lohnarbeit ein sehr bescheidenes, aber immerhin geselliges Leben zu führen. Allerdings gilt das nicht für die Armen generell. All die verschuldeten und ins Elend geratenen Kleinfamilien bleiben zu Hause oder als Exmittierte in Asylen am Stadtrand; die Kinderreichen, Kranken, Alten und die alleinstehenden Mütter mit ihren Kindern kommen auch nicht hierher. Die Armenausspeisungen werden frequentiert von der Elite der Armen, die das Gegenstück zum Yuppie sind: großstädtisch, nicht mehr jung, unfreiwillig alleinstehend, abgestiegen und fast ohne jede Kaufkraft. Sie haben die Suppenküche zu ihrem Forum gemacht, zum Umschlagplatz für Neuigkeiten, Ratschläge und Gegenstände, zum Auftrittsort für Kritiker und Geschichtenerzähler. Es ist die Lebhaftigkeit des sozialen Austausches und eine Vielzahl verschiedenartiger Erscheinungsbilder und Charaktere, die zu einer Art geistiger und seelischer Durchblutung aller Beteiligten führen. Der todkranke elsässische Kirchenmaler drückt das so aus: „Auch wenn ich mich noch so schlecht fühle, ich nehme alle Kraft zusammen und geh' ein bizzele unter die Leute – gar nicht mal so fürs Essen –, weil das Medizin für mich ist, wenn ich die vielen dummen Gesichter wiedersehe.“
Froh, daß die Sommerpause vorbei ist, haben die üblichen Kandidaten nach der Predigt Platz genommen an den Tischen. Der Kirchenraum ist sonnendurchflutet, Kaffeekannen werden von den Helfern gebracht, vor dem Altar singt eine braunhäutige Frau hingebungsvoll Gospels ins Mikrofon. Wir sitzen, flankiert von Antiquar und Kirchenmaler, dem Schauspieler Rudi gegenüber, einem zarten, gepflegten alten Herrn, der als junger Mann bei den „Insulanern“ war. Er hatte vor kurzem Geburtstag, seinen siebenundsechzigsten. Zu diesem Anlaß wurde ein kleines Hoffest gefeiert, ausgerichtet von seiner Freundin Anita, einer zweieinhalb Zentner schweren, sehr netten Frau aus dem Osten. „Es war ausgesprochen schön“, berichtet Rudi, „es gab Gegrilltes, Bratwurst und Bauchspeck, dazu Kartoffelsalat, Stullen, Gurken und natürlich Getränke aller Art. Wunderbar! Und dann war ja auch noch das große Sommerfest, eine Benefizveranstaltung war das, für ein Obdachlosenwohnprojekt, unter der Schirmherrschaft einer ehemals berühmten Sängerin aus der DDR, der Name wird euch nichts sagen, jedenfalls hatte ich da einen kabarettistischen Auftritt, schade, daß ihr das nicht gesehen habt, die Leute haben sich unendlich amüsiert. Das Fest ist so gut angekommen, daß wir es noch mal wiederholen werden, an einem anderen Ort.“
Der Antiquar verteilt fast den gesamten Inhalt des Marmeladenschälchens auf seine beiden Brötchenhälften und wird von der zahnlosen Mutter, die neben dem Schauspieler Platz genommen hat, entsprechend gerügt. Wortlos reicht er ihr eines der dick mit gelbem Gelee bedeckten Brötchen hin, doch sie lehnt ab: „Ick meinte nur, andre Leut wollen vielleicht ooch noch wat essen, ick meinte nich, daß ick wat essen möchte, ick habe Magenweh!“ Sie rührt in ihrem schwarzen Kaffee, sieht ungewaschen und krank aus. Die krallenlangen Nägel sind nicht nur nikotingelb wie gewöhnlich, sondern auch mit Schmutz unterfüttert. Rudi, dessen kugelrunde Freundin stets säuberlich und marzipanfarben schimmernd auftritt, schaut unentwegt auf die skandalösen Nägel, während er vom Sommerfest weitererzählt. Die zahnlose Mutter, die eine heimliche Verehrerin von Rudi ist, seufzt und sagt: „Det Problem is, wenn ick nu anfange mit der Abknipserei, denn muß ich garantiert bis zum Ende meiner Tage weiterknipsen, die Kraft hab' ick vielleicht gar nich mehr. Also laß ick die Nägel lieber so wie se sind. Det kommt allet nur vom Lackieren. Ick hab' ja früher, wo ick noch Fachverkäuferin war im Radiohandel, immer sauber lackierte schöne lange Nägel gehabt – noch länger als jetzt – der Lack, der macht die Nägel so hart wie Horn, det bleibt so für immer, wat soll ick machen?“ „Feilen“, rät Rudi. Die zahnlose Mutter zuckt mit den Schultern, und der Antiquar bemerkt schadenfroh: „So jedenfalls sieht es abscheulich aus, richtig unappetitlich!“ „Du mußt ja nich hinkiecken, du Knallkopp!“ zischt die zahnlose Mutter und macht ein abfälliges Geräusch mit den Lippen.
Der Antiquar kichert etwas verlegen und sagt in unsere Richtung: „Ich war beim Arzt gestern, hab' mir künstliche Tränen verschreiben lassen.“ Der Kirchenmaler bittet um die Margarine und brummt: „Was der Mensch zum Arzt rennt, das geht auf keine Kuhhaut, dabei ist er gesund.“ Der Antiquar, der zwar einen hohen Blutdruck hat und andere kleinere Störungen, geht aber hauptsächlich wegen der Lesemappen in die Warteräume der Praxen. Dort sind sie, im Gegensatz zum Café, kostenlos zur Hand. Und zusätzlich läßt er sich Salben und Magnesiumtabletten verschreiben, gegen nächtlichen Wadenkrampf oder auch „künstliche Tränen“, gegen zu trockene Bindehaut. Der große junge Mann neben dem Antiquar, der einen gefürchteten Appetit hat, verlangt bereits zum vierten Mal nach dem Wurstteller und bekommt ihn nicht. Verdrossen nimmt er Käse.
„Ach!“ ruft der Antiquar zu uns gewandt aus, „habt ihr schon gehört, Schlingensief und Jelinek gehen baden in Salzburg, und nicht im Wolfgangsee.“ „Wer geht baden?“ fragt der junge Mann, der an guten Tips ebenso interessiert ist wie am Wurstteller. „Jelinek und Schlingensief, ihr Stück wurde verrissen, seins bekam kein Geld“, frohlockt der Antiquar. „Kenn' ich nicht!“ murmelt der junge Mann desinteressiert. Der Antiquar ist empört, ruft laut: „Tötet Kohl! Nie gehört? Und ,Chance 2000, die Partei der letzten Chance‘ macht er auch, der Schlingensief, den kennt doch jeder!“ „Ich nicht. Nie was davon gehört“, sagt der junge Mann bedauernd. Der Kirchenmaler schiebt seinen Teller zur Seite und räuspert sich: „Apropos Kohl, da muß ich euch einen Witz verzählen: Zwei alte Frauen im Altersheim haben eine Reise nach Bonn gewonnen. Der Besuch einer Bundestagsdebatte steht auch auf dem Programm, und wie sie so auf der Besuchergalerie sitzen, spricht gerade der Kohl. Da sagt die eine Frau zur anderen: ,Ach du lieber Gott! Wie dick der Führer geworden ist?!‘ Und die andere sagt: ,Und guck doch, dort links, der Goebbels im Rollstuhl!‘“ Der Antiquar lacht sehr, ebenso einige der Umsitzenden, die zugehört hatten. Nur der junge Mann hat mißverstanden und ruft im Brustton aus: „Wenn's nach mir ginge, ich würde jeden Wahlkampf verbieten. Da verbreiten sie doch nur noch mehr Lügen als sonst, und das alles auf Kosten vom Steuerzahler!“ Beim Wort Steuerzahler kichert die zahnlose Mutter: „Du und Steuerzahler? Du hast doch noch nie 'ne Mark an den Staat jezahlt, du holst dir immer nur 'ne Mark! Det zum ersten, und wat den Wahlkampf anjeht, so sage icke mit meinem kleenen Verstand, die Politiker sollen lieber die janzen vier Jahre über Wahlkampf machen, indem die uns mal zeigen, wat se jutet tun fürs Volk! Denn wern se ooch wiederjewählt, ganz ohne Brimborium!“ Der Antiquar klatscht anerkennend in die Hände, auch der Radfahrer lobt: „Prima Idee, Inge, du solltest in die Politik einsteigen“, und nimmt sich aus der Plastikschüssel, die herumgereicht wird, zwei Brötchen und legt sie liebevoll nebeneinander auf seinen Teller.
He!“ ruft der Radfahrer schrill und deutet auf seine Brötchen, „seht mal, was der Bäcker da erfunden hat, ich bin sicher, der dachte an seine Frau. So appetitlich, wie das geformt ist. Als mein Gebiß hergestellt wurde, da mußte ich die Brötchen ja immer in Milch tauchen, und dabei fiel mir das damals ein, das mit der Bäckerin.“ Der Antiquar freut sich, erwartungsfroh vertiefen sich seine Lachfältchen. Mit der ihm eigenen, nerven
zerfetzenden Lautstärke, sagt der Radfahrer: „Und das ist noch nicht alles. Dann gehst du beim Fleischhauer vorbei und siehst so ein Tablett voller Würste, nee wirklich! Das ist die pure Schweinerei. Die im Dickdarm sind die Schlimmsten. Wie unschuldig wirkt doch daneben ein Apfel, aber leider, so was kann man ohne Prothese nicht beißen! Wenn man Hunger hat, dann sieht man nämlich das Essen mit vollkommen anderen Augen an. Ein halbes Jahr lang habe ich gehungert, dann war sie fertig, meine Prothese. Seither schlafen wir immer getrennt, meine Zähne und ich.“ Der Antiquar ergänzt: „Du schläfst im Glas und deine Zähne im Bett.“ „So isses! Woher weißt du das?“ ruft der Radfahrer aus und blickt dem Antiquar streng über den Rand seiner Brille hinweg in die Augen.
Des Radfahrers Lautstärke hat die Aufmerksamkeit der ganzen Tischgesellschaft auf sich gezogen, man kichert. Einer jedoch lacht geradezu haltlos, es ist der Erzfeind des Radfahrers, ein viril aussehender älterer Mann, mit gestutztem graumeliertem Kopf- und Barthaar und sonst eher mißtrauisch blickenden grauen Augen. Die beiden waren früher mal Freunde und gehen sich seit ihrem Zerwürfnis so gut als möglich aus dem Weg. Der Antiquar, der sich fast zu einer Art Privatsekretär entwickelt hat im Lauf der Zeit, neigt sich zu meinem Ohr und flüstert: „Er ist Jude wie Erwin, aber ein Deutschen- und Frauenhasser, weil seine Mutter im KZ Neuengamme umgebracht wurde, als er noch ein Kind war. Der ist ein Einzelgänger, er handelt irgendwie mit Trödel.“ Aber heute scheint ein Zauber über dem Tisch zu liegen, der die Konstellationen durcheinanderbringt. „Genauso fühlt sich mein altes Krokodil. Es weiß, daß kein Mensch sich vor ihm fürchtet, wenn es keinen Zahn mehr im Maul hat. Lange Zeit machte es einfach sein Maul nicht mehr auf, damit die Leute denken, es hat Zähne und ist nur etwas schläfrig. Aber gefährlich wie immer. Jedoch eines Tages, wir gingen in der Hasenheide spazieren, da trafen wir einen Pensionisten, einen Gebißträger, der sprach mein Krokodil an, und es ist furchtbar erschrocken, weinte viele Krokodilstränen und klapperte mit allen Knochen! Der Mann lächelte freundlich, und es bekam solche Angst, daß es sich an mich geklammert hat. Das konnte ich ihm bis heute nicht mehr abgewöhnen, leider.“
Der Radfahrer zieht den Reißverschluß seiner feuerroten Montur fast bis zum Schritt auf und nimmt eines der harten Eier entgegen, die ein dicker ehrenamtlicher Helfer, mit großem Holzkreuz auf der Brust, freundlich lächelnd verteilt. „Ich bin die Madame Butterfly, fliege die Butter hier vorbei – auch 'nen Appel und ein Ei“, singt der Radfahrer mit operettenhafter Stimme, woraufhin sich die Gesichtszüge des ehrenamtlichen Helfers, der sich verhöhnt glaubt, auf der Stelle verdüstern. Der Radfahrer, der ein feineres Sensorium hat als man glauben möchte, beschwichtigt sofort: „Du bist nicht gemeint, ich dichte mir nur gerne was zusammen, von Krokodilen, Butterfliegen und Eiern, weil mich das von meinen Schmerzen im Fuß ablenkt.“ Der Helfer geht zweifelnd weiter. „Folgendes!“ doziert der Radfahrer laut und klopft mit dem Teelöffel sacht an sein Ei, „so ein Ei, das will richtig behandelt sein. Wie, das sollte jeder wissen! Zuerst mal stellt man es auf der richtigen Seite ab, also breite Seite nach unten, spitze nach oben.“ Der Antiquar, der sein Ei grob auf der Tischplatte aufgeklopft und geschält hat, läßt es mit zwei Bissen im Munde verschwinden, während die zahnlose Mutter ihres dem Kirchenmaler auf den Teller legt. „Herhören!“ brüllt der Radfahrer, „nun klopft man ganz vorsichtig an – und benimmt sich nicht wie ein gefühlloser Mörder, was der Herr da grade vorgemacht hat – nein, höflich klopfen, hier ein bißchen an der Seite und dann... Ruhe doch mal! Man muß ganz genau hinhören“, er neigt sein Ohr zum Teller hinab, „ob da nicht 'ne kleine Piepsstimme ruft: HEREIN! oder BESETZT! Und dann sagst du einfach: Ich bin's, deine Mama. Entweder komm raus, oder du wirst gefressen!“ Der Jude wird von einem Lachkrampf geschüttelt und wischt sich die Tränen weg. Angesteckt davon lachen auch die anderen, bis auf einen, der neben dem Juden sitzt und verbissen seine Hände knetet. Er ist ein hochaufgeschossener, bleicher, magerer junger Mensch mit bereits schütter werdendem Haar, der beim Morgengebet die Arme ausgebreitet gen Himmel hebt und verzückt die Augen schließt. Man belächelt ihn als etwas exaltierten Christen.
Keine Angst, Kleines“, sagt der Radfahrer gütig, streichelt das Ei und steckt es in die Hosentasche, „ich habe heute morgen schon zwei Tafeln Schokolade gegessen. So, ihr werdet es nicht glauben, die Schmerzen in meinen Beinen sind weg, nur durchs Geschichtenerzählen!“ Der Christ fragt, als der Jude endlich aufgehört hat zu lachen: „Du behauptest also, daß du deine Schmerzen selbst verschwinden lassen kannst?!“ Der Unterton ist unüberhörbar, aber der Radfahrer sagt gelassen: „Ja klar, das kann jeder, die einen nennen es Autosuggestion, du nennst es wahrscheinlich beten, und ich erfinde Geschichten. Aber es gelingt natürlich nicht immer, es ist nicht so leicht, sich selbst zu betrügen. Ich mache mir eine märchenartige Illusion, die beschäftigt dann meinen Schmerz, und ich bin ihn los. So einfach ist das.“ Der Christ wirkt verwirrt, sagt nach einigem Zögern: „Nur Gott hat die Kraft, Schmerzen zu geben und Schmerzen zu nehmen, wenn du deine wegbekommst, dann nur, weil er dir die innere Kraft dazu gegeben hat.“ „Wie auch immer“, ruft der Radfahrer, „der eine hat sie, der andere nicht, der eine hat sie und stirbt trotzdem, der andere hat sie nicht und lebt weiter.“
Der Kirchenmaler bemerkt ironisch lächelnd: „Ihr mit eurem ewigen Entweder und Oder, die Realität sieht ein bizzele anders aus, es gibt Schmerzen, da wünschst du dir den Tod, es gibt Schmerzen, an die gewöhnst du dich. Gewiß ist nur, daß ich verrecken muß; und dafür gibt es gute Gründe.“ Der Christ, der weder etwas über den jetzigen Zustand des Kirchenmalers weiß noch über dessen Jugendjahre als Fremdenlegionär im Algerienkrieg, fragt mit überraschender Schärfe: „Hast du denn überhaupt schon mal jemanden sterben sehen, der nicht sterben wollte?!“ Abwinkend erhebt sich der Kirchenmaler mühsam von seinem Stuhl, sagt: „Ich geh' eine rauchen vor der Tür“, und verschwindet. Auch der Radfahrer ist ärgerlich: „Du hast überhaupt nichts kapiert von dem, was gesagt wurde, und auch nicht von dem, was ich sagte. Was ich meine ist, daß mein Geist, mein Körper und meine Psyche eine Einheit bilden, normalerweise, wenn alles gut ist, wenn aber eins davon krank wird und beschließt, ich will nicht mehr, dann müssen die beiden anderen fest zusammenhalten.“ Immer noch amüsiert von der Frage, die der Christ dem ehemaligen Fremdenlegionär gestellt hat, sagt der Antiquar in Richtung Radfahrer: „Es gibt bei uns eigentlich drei Tode. Nee, vier sogar! Den psychischen, den sozialen, den Hirntod und den vollständigen biologischen Tod.“ Aber niemand möchte diesen schönen Gedankengang vertiefen.
„Dein Wille“, sagt der verstockte Christ zum Radfahrer, „der nutzt dir gar nichts, wenn du nicht vertrauensvoll Gottes Segen in dir aufnimmst, er hat die Krankheit gegeben, nur er kann sie nehmen.“ „Quatsch!“ ruft der Radfahrer aufgebracht, „warum sollte der liebe Gott wollen, daß ich krank bin?“ „Warum sollte die Krankheit wollen, daß du krank bist?“ kräht der Antiquar aus purem Vergnügen an der Konfusion. Den Christen bringt nichts aus der Reserve: „Krankheiten sind Prüfungen, die Gott dem Menschen schickt“, und tückisch fügt er mit grübelnder Stimme hinzu: „Manchmal sind es vielleicht auch Strafen. Jeder hat sein Schicksal selber in der Hand, wenn er sich die Augen öffnen läßt! Dann brauchst du keinen Willen mehr!“ Dem Juden, der die ganze Zeit über bereits durch kommentierendes Mienenspiel seine Meinung zum Ausdruck gebacht hat, platzt nun der Kragen: „Das ist doch wohl das letzte, was du da von dir gibst. Wenn der Wille weg ist, dann stirbst du, Junge, das ist was Absolutes, dann ist Schluß!“ Sein Hund, ein gutmütiger Rottweilerrüde erhebt sich aufgrund des scharfen Tonfalles und studiert die Situation. Der Christ bleibt dabei: „Es gibt einen Haufen von Drogenabhängigen, die keinen Willen mehr haben und leben trotzdem.“ „Das bestimmst also du, was Wille ist?!“ fragt der Jude, ihn scharf musternd, „eine Sucht zu befriedigen ist auch ein Wille, damit basta!“ „So können wir nicht reden“, rügt der Christ in beleidigtem Tonfall, und der Jude schlägt vor: „Dann beantworte doch am besten deine Fragen selber, wenn du sie schon stellst.“
Nach einer kleinen Pause, in der die zahnlose Mutter mit den Worten: „Mein Sohn ist mein Gott“ aufsteht und geht, sagt der Christ: „Ich verstehe dich nicht, du kannst doch als gläubiger Jude nicht solche Sachen behaupten.“ Dem Juden ist die Qual deutlich anzusehen: „Ein Unterschied, einer der vielen Unterschiede zwischen Juden und Christen, ist, daß wir unseren Glauben studieren. Wir lesen nicht nur, legen ein bißchen aus und beten dann nach, wie es die Christen tun, wir führen religiöse und philosophische Debatten, wir argumentieren, diskutieren und kritisieren und sind mit dem Ergebnis nie zufrieden. Das zum einen, aber wir reden hier nicht über Religionen und schon gar nicht über mich, wir reden über die Natur, über so was Absolutes wie den Tod.“ „Aber ich bin nun mal überzeugt davon, daß es Gott gibt“, entgegnet der Christ, „und daß Gott das Leben gibt und auch den Tod.“ Der Jude schlägt sich vor die Stirn: „Das meine ich, daß ist typisch für euch, immer ist da einer, der sagt, so: du darfst jetzt leben und du nicht! So stellst du dir das vor, ja? Häufig sind es aber ganz reale Menschen gewesen, die gesagt haben, der und der kann leben und die nicht!“ Der Christ versteht die Anspielung nicht: „Ich berufe mich ja nur auf die Heilige Schrift.“ „Das ist ein Buch, sonst nichts!“ befindet der Jude, woraufhin sich der Christ ereifert: „Es wird dann zu einem lebendigen Buch, wenn du Gott erfahren hast, das war bei mir auch so.“
Nun bildet sich zwischen den Brauen des Juden eine steile Falte: „Das sind alles Sprüche, die du da von dir gibst, dumme, überhebliche Sprüche. Paß mal auf, ich bin stinksauer auf dich, auf deine Arroganz, die dir gar nicht zusteht.“ Der Hund blickt ratlos von einem zum anderen. Mit einem Abschiedsgruß verläßt der junge Mann den Tisch, Radfahrer und Antiquar sind bereits gegangen, nur Erwin und ein schweigsamer, weißhaariger alter Mann verharren noch. Der Christ knetet seine Hände und sagt gekränkt: „Also, wenn das so rübergekommen ist bei dir, dann tut mir das leid, dann entschuldige ich mich.“ „Ekelhaft!“ ruft der Jude aus, „du widerst mich an!“ Damit hat der Christ nicht gerechnet, und mit einem „Man muß auch vergeben können und nicht nur selbstgerecht sein!“ erhebt er sich, um zu gehen. Auch der Jude erhebt sich, nimmt seinen Hund an die Leine, ruft dem Christen nach: „Meine Vergebung, die kannst du dir in die Haare schmieren!“ und verschwindet durch den Haupteingang.
Erwin schiebt die verlassenen Teller und Tassen zusammen, zieht beide Augenbrauen hoch und stößt nuschelnd hervor: „Es gibt auf so viele Sachen keine Antwort, is doch so! Und die reden und reden. Wissen die alles? Wenn ich das schon immer höre, mit der Vergebung, dann werde ich sauer. Also, das kannste vergessen, den Scheißdreck. Immer her damit, was? So einfach ist das bestimmt nicht. Man hat ja ein Gedächtnis. Vergeben und vergessen? Soll jemand anderer vergeben, meinetwegen, bitte schön. Aber ich sage dir, Vergebung ist total überholt, total überholt! So, jetzt geh' ich zum Mittagessen.“ Erwin verabschiedet sich, macht einen großen Bogen um den Christen, der wieder aufgetaucht ist und suchend durch den Raum blickt.
Der alte Mann ist sitzen geblieben, er hat noch eine halbe Scheibe Brot auf seinem Teller. Seine Gesichtszüge sind mild und ebenso altmodisch wie Schlips, Anzug und Umgangsformen. Sein Name ist Iwan, er ist Bulgare, führt als Kunstmaler eine bescheidene Existenz in Berlin und war eine zeitlang ziemlich eng mit dem Juden befreundet. Er räuspert sich und sagt in einem weichen, gebrochenen Deutsch mit leicht rollendem R: „Sehn Sie, ich habe zugehört und geschwiegen. Ich habe nachgedacht, das Thema spielt eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben – in der Vergangenheit! Damals gab es viele Probleme in meiner Heimat, heute haben wir noch mehr Probleme, politische, ökonomische, mafiosische, psychologische. Und ich sitze hier in Deutschland, in einer Kirche an einem Tisch, esse Wurstbrot und trinke Kaffee. Das gibt es bei uns nicht. Trotzdem bin ich vorsichtig. Ich war nie Kommunist; Christ bin ich auch nicht. Ich habe aber eine kleine Theorie, daß vielleicht alle kosmischen Kräfte von einer zentralen Kraft geleitet werden, physikalisch oder wie auch immer. Ich brauche keine Ideologie. Gute Gedanken, Essen und Trinken mit Freunden – und keine Feinde, mehr brauche ich nicht. Ich bin du, du bist ich, wir sind wir! Die Geschichte zeigt, ein Menschenleben ist zu kurz für so viele Enttäuschungen. Ich habe mehrere politische Systeme durchleben müssen: die zaristische Zeit, eine monarchistische Militärdiktatur, eine faschistische Militärdiktatur, eine kommunistische Diktatur und nun das kapitalistische Paradies. Ist es das? Ich war sogar stolz auf Georgi Dimitroff, als er die Führung in unserem Land übernahm, auf das, was er im Reichstagsbrandprozeß gesagt hat. Aber nur kurz. Der Faschismus hat uns getötet, der Kommunismus hat uns beerdigt. Viele haben sich vollkommen umsonst geopfert, die Zeit wurde nie reif. Nun müssen die Völker lernen, nein zu sagen, wenn man ihnen mit den notwendigen Grausamkeiten des Lebens für ein höheres Ziel kommt. Und sie sollen für das, was man ihnen angetan hat, kein Verständnis haben und keine Vergebung. Das ist meine Meinung. Verzeihen kann nur ein Mensch einem anderen.
Dazu eine kleine Geschichte: Ich bin eigentlich ein Maschinenbauer, habe Elektromotoren gebaut in meiner Heimat, für Straßenbahnen und andere Bahnen. Ich habe gute Arbeit geleistet und Verbesserungen gefunden, aber eines Tages hat ein Kollege meine Entwürfe gestohlen und meine Arbeit als seine Arbeit ausgegeben. Ich konnte diesen Betrug nicht beweisen, und leider – muß ich heute sagen – hat mich das sehr verbittert, zwanzig Jahre lang. Ich habe den Ort verlassen. Diese Sache hat mein ganzes Leben bestimmt und verändert, sonst würde ich wahrscheinlich nicht hier vor Ihnen sitzen. Und nun bedenken Sie, zwanzig Jahre lang bin ich einmal im Jahr zu der Wohnung dieses Kollegen gegangen, habe geklingelt und ihn gefragt, ob er es zugibt. Und was glauben sie, er hat jahrelang nein gesagt. Nach zwanzig Jahren Leugnen gab er es eines Tages zu. Einfach so, ohne Erklärung. Ich habe ihm verziehen, danach sah ich ihn nie wieder.“
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