: Globalisierung ist nicht die Ursache des Übels
■ Der französische Ökonom Daniel Cohen untersucht scharfsinnig die gängigen Theorien zu den negativen Auswirkungen der Globalisierung auf die Beschäftigung und widerlegt sie alle
Wer ist schuld an der hohen Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Armut und Ungleichheit? Häufigste Antwort: die Globalisierung. Produktionsstätten werden in die 3. Welt und in die aufstrebenden Nationen Asiens exportiert, und damit fallen hier die Arbeitsplätze weg. Soziales Elend ist die Folge. Aber ist das die richtige Analyse?
Daniel Cohen, französischer Professor für Ökonomie, widerspricht dieser These in seinem Buch „Fehldiagnose Globalisierung“. Weder weltwirtschaftliche Veränderungen noch die Demontage der Gewerkschaften, Einwanderung und Deregulierung könnten als grundlegende Erklärungen herangezogen werden. Arbeitslosigkeit habe ihre Wurzel vor allem in technologischen Veränderungen: Erst durch die Computerrevolution sei eine andere Arbeitsorganisation möglich. „Durch den Schleier der Globalisierung und Tertiarisierung wird deutlich, daß die derzeitige explosionsartige Zunahme der Einkommensunterschiede in Wirklichkeit auf eine Revolution in den Produktionstechniken zurückzuführen ist.“
Die „dritte industrielle Revolution“ führe zu strukturellen Veränderungen im Kapitalismus. Die fordistische Fabrik, in der verschiedenste Fertigungsprozesse an einem Ort zusammengefaßt waren, existiere nicht mehr. An ihre Stelle treten dezentralisierte Produktionseinheiten, die an verschiedenen Orten angesiedelt sein können. Gleichzeitig steige das Qualifikationsniveau. Die „Innovationsexplosion“ erfordere von allen Mitgliedern einer Gruppe ein gleiches Qualifikationsniveau auf hohem Standard. Wer diese Bildung hat, gehört zu den Gewinnern, den „Ideenproduzenten“. Wer diese Bildung nicht hat, verliert.
Innergesellschaftlich klaffe die Wohlstandsschere immer weiter auseinander. Cohen erklärt das mit der Insider-Outsider-Theorie. Qualifizierte Arbeitnehmer – die Insider – könnten aufgrund ihres spezifizierten Wissens hohe Löhne aushandeln. Sie befinden sich auch weiterhin im Zentrum des Wirtschaftsprozesses. Wer jedoch erst einmal arbeitslos – Outsider – sei, dem falle es angesichts des raschen Wechsels der Bildungsanforderungen zunehmend schwerer, erneut Arbeit zu finden. Outsider sind abgekoppelt vom Zentrum der kapitalistischen Maschine.
Warum ist in unserem Wohlfahrtsstaat diese wachsende Armut möglich? Laut Cohen passen die sozialen Regeln nicht mehr zu der veränderten kapitalistischen Wirklichkeit. „Die Anpassung des Wohlfahrtsstaats an die neuen sozialen Bedingungen hat einer innenpolitischen und binnenwirtschaftlichen Logik zu folgen, bei der die Globalisierung kaum eine Rolle spielt.“
Cohen schlägt eine negative Steuer vor. Ein garantiertes Mindesteinkommen solle den Menschen ihre Existenzgrundlage sichern. Fraglich sei jedoch, ob sich das durchsetzen lasse. Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft führten zu immer weniger Bereitschaft, Reichtum umzuverteilen. Dem Trend zu mehr Egoismus stehe scheinbar paradox eine Furcht des modernen Menschen gegenüber: die Furcht vor einer entmenschlichten, kalten Gesellschaft.
An diesem Punkt erkennt Cohen auch die Auswirkungen der Globalisierung an. Durch die Marktöffnung schrumpfe der nationalstaatliche Handlungsspielraum. „Da es nicht nur keinen Weltstaat gibt, sondern auch keine handlungsfähigen Staaten mehr [...], begibt sich die Welt blindlings in ein Abenteuer, dessen Ausgang vorherzusagen wohl nur den Schlausten unter den Verfechtern der These vom „Ende der Geschichte“ gegeben ist.“ Cohen setzt sich daher für internationale Spielregeln als begleitende Maßnahmen der Globalisierung ein. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzt er jedoch ausschließlich auf den Nationalstaat. Hier führt er seine Analyse teilweise nicht stringent zu Ende. Die Globalisierung kennzeichnet Cohen als Prozeß, der sich zeitgleich in die 3. industrielle Revolution einreiht. Der technische Innovationsdruck mache es unmöglich, sich aus dem Weltmarkt auszuklinken.
Es ist eine Stärke Cohens, wirtschaftliche Sachverhalte in einen soziologischen und politischen Rahmen zu setzen. Dies kennzeichnet insgesamt die französische Debatte um die mondialisation. „Wünschenswert wäre [...], daß die westlichen Nationen wieder lernen, das Politische zu denken, da das Ökonomische den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht länger stärken kann.“ Ricarda Mletzko
Cohen, Daniel: „Fehldiagnose Globalisierung: Die Neuverteilung des Wohlstands nach der dritten industriellen Revolution“. Campus, Frankfurt a.M. 1998, 36 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen