: Zeit der Ding-Religion
Die Einbindung Deutschlands in die zivilisatorische Ordnung ist nicht das Verdienst der Grünen, sondern der stabilen Verhältnisse nach 1945. Große Geschichte, kleine Gegenwart. Wir Grünen, eine vorläufige Bilanz ■ Von Walter Klier
Wir begannen in den siebziger Jahren als „Bewegung“ und nannten uns auch so, was uns gar nicht merkwürdig erschien. Wir wollten keine politische Partei werden, denn damit hätten wir uns ins Tagesgeschäft mischen, uns die Hände schmutzig machen, Kompromisse schließen, von der Utopie Abstriche machen müssen. Das folgte logisch aus dem „Scheitern der Achtundsechziger“, die es unternommen hatten, durch die Institutionen zu marschieren, und dort irgendwo versackt waren, wenn sie es nicht vorgezogen hatten, Terroristen zu werden, eine andere Art des Scheiterns, die wir ebenfalls vermeiden würden. Die radikale Veränderung, der Umbau der Gesellschaft mußte also irgendwie von außerhalb, von unten angegangen werden, durch Initiativen und Vernetzung, wie die entsprechenden Wörter lauteten.
Wir übten fundamentale Kritik an der parlamentarischen Demokratie, was uns als Söhnen und Enkeln jener Generation, in der eine andere fundamentale Demokratiekritik Erfolg gehabt hatte, ebenfalls gar nicht merkwürdig erschien. Damit waren wir traditionell und ebenso in unserem Antiamerikanismus und Antikapitalismus. Etwas störend wirkte bei alldem, daß mancher in Ehren ergraute Linke uns schalt, daß wir den Wald retten wollten, von dem bis dahin nicht bekannt gewesen war, daß es ihm so schlecht ging. (Von unserer ebenfalls fundamentalen Wissenschaftskritik waren die Meßergebnisse, die unsere ökologische Katastrophentheorie untermauerten, selbstredend ausgenommen.) Daß der Wald, kurios genug, die deutsche Ikone schlechthin darstellt, Gegenstand einer Verehrung, die in den Urgründen des mit dem Humanismus erwachenden deutschen Nationalgefühls wurzelt, in jener bis dahin ganz unbekannten „Germania“, die praktischerweise im 15. Jahrhundert in Deutschland (wo sonst?) gefunden worden war, daß wir also eine Wiedereinsetzung dieser Ikone in ihre Rechte mit den Mitteln des wissenschaftlichen Zeitalters betrieben, das wollten wir aber schon gar nicht hören, und wir zückten empört unsere Waldschadensberichte und Grenzwertüberschreitungsprotokolle.
Mancher ging, als später Nachfahr der russischen Intellektuellen der 1860er Jahre, tatsächlich aufs Land, und die mitteleuropäischen Bauern dürften sich in der Mehrzahl damit begnügt haben, die verrückten Städter in ihren Latzhosen zu ignorieren, anstatt, wie im historischen Präzedenzfall, die Besserwisser zu verprügeln und dadurch das Kommunikationsproblem gleich sinnlich erfahrbar zu machen. Die meisten allerdings blieben in der Stadt – zumindest bis sie viele Jahre später ihrerseits durch die Institutionen marschiert waren und sich ein Häuschen im Grünen leisten konnten, und gründeten eine Partei, eine in Deutschland und eine in Österreich, erfolgreiche Vorbilder, denen die Nachahmer in anderen europäischen Ländern lange nichts Vergleichbares an die Seite stellen konnten, obwohl doch, unserer Ansicht nach, die Probleme global und andernorts nicht weniger drängend waren als hier im Herzen des damals noch geteilten Kontinents. (Wenn in diesem Text relativ unterschiedslos von Deutschland und Österreich die Rede ist, so deshalb, weil sich die Bewegung in den zwei Ländern tatsächlich fast identisch entwickelt hat, die Österreicher sich also so „deutsch“ aufführten, wie sie es sonst kaum noch tun.)
Dieser Kontinent, ja die ganze Welt stand am Rande des Abgrunds, und das zweifach: Einerseits bedrohten die Supermächte uns mit dem Atomtod, andererseits waren wir alle eben dabei, diese unsere Welt – von unseren Kindern nur gepachtet! – final zu vergiften. In der friedlichen Nutzung der Atomkraft bündelte sich dies zum Symbol einer Welt, mit der wir nichts zu tun haben und die wir in ihrer Gesamtheit überwinden wollten; in den Worten des großen Erich Fried: „Ich glaube, man muß alles auf einmal verändern.“
Wir huldigten da einem politischen Reinheitsgebot, das nichts weniger als totalitär war, genauso totalitär, wie es unsere Überväter von 1968 auf ihre Weise gewesen waren. Doch gab es da ein Zusatzmerkmal, mit dessen Hilfe wir uns effizient darüber hinwegtäuschen konnten: die Basisdemokratie. Auch aus der Überwindung aller überkommenen parlamentarischen Formen sollte etwas ganz Neues entstehen, gewissermaßen eine Dauerkonferenzschaltung zwischen der Basis und ihren Repräsentanten. Die oben sollten in jedem Augenblick das vertreten, was die Basis ihnen aufgetragen hatte – denn schließlich konnten nicht alle immer überallhin fahren, um mit abzustimmen, es wäre auch unökologisch gewesen.
Im Rückblick würde das alles eher betrüblich stimmen, denn die Parallelen zu den anderen „Bewegungen“ der letzten hundert Jahre sind allzu auffällig. Doch die Geschichte war gnädig gewesen, und die Wirksamkeit der Bewegung beschränkte sich auf jene Bereiche, wo tatsächlich etwas im argen lag. Denn wenn das Waldsterben (der saure Regen!) sich auch nicht als die globale Bedrohung herausgestellt hat, so ist man doch unter der irrigen Annahme, es wäre eine, den zahlreichen lokalen Problemen zu Leibe gerückt; und in dem Maß, wie die Grünen in Österreich – langsamer und unvollkommener auch in Deutschland – das apokalyptische Weltbild abschüttelten oder vergaßen (oder es in den Schrank hängten und nur noch an hohen Festtagen überzogen) und zur „normalen“ politischen Partei mutierten, erfüllten sie die unverzichtbare Funktion einer Opposition, die nicht oder noch nicht in das bisherige Machtgewebe eingebunden ist.
Diese Veränderung geschah unter vielen Schmerzen, und der durchschlagende Erfolg der im engeren Sinne „grünen“ Ideen hat, wie bekannt, die gleichnamigen Parteien der zentralen Thematik beraubt. Das schmerzt, ist aber für die Grünen nicht typisch, sondern allgemein so. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer übergroßen Mehrheit im wohlhabenden Mittelstand zusammenfindet, wird sich auch in der Artikulation der politischen Differenzen als weniger zerklüftet erweisen als etwa die Weimarer oder die erste österreichische Republik.
Das grüne Weltbild, eine Negativform des so hart bekämpften Machbarkeitswahns, ist (wie kürzlich zu erleben gewesen) selbst bei Ulrich Wickert durchgesetzt, wenn er nach einer Murenkatastrophe den zuständigen Ingenieur in Sachen „menschliche Einflußnahme auf die Natur“ verhört.
Heute sind die Grünen keine Bewegung mehr (und das „wir“, das ich verwende, ist historisch). Sie bestehen, wie die anderen, aus einer Partei, ihrem Apparat, ihren Wählern und einer schwankenden Anzahl von Aktivisten, die etwa in Gestalt der Greenpeace-Leute ebenfalls halb- oder vollprofessionellen Status erlangt haben. Die Rückkehr zum Realismus ist erfolgt, und sie verlief (das ist doch schon etwas) weniger holprig und gewalttätig als bei der Generation vor uns. Die Einbindung in die bestehende zivilisatorische Ordnung, eine dem deutschen Menschen, der – in welcher Epoche, in welcher Verkleidung immer – so gerne dem Idealen anhängt, höchst unangenehme Vorstellung, ist nicht unbedingt das Verdienst der grünen Bewegung selber. Eher haben die insgesamt stabilen Verhältnisse, die mit Hilfe der westlichen Sieger von 1945 hier etabliert wurden, aus der „Utopie“ das gemacht, was vernünftigerweise aus ihr werden sollte: ein Diskussionsbeitrag, eine Widerrede, die letztlich dem Gesamten das Ihre, Eigene, Zeitgemäße beifügt.
Wir trennen den Müll immer noch. Das Mülltrennen ist eine Sache, die dem zentraleuropäischen Zwangscharakter sehr entgegenkommt, und selbst wenn unsere und die kollektive Vernunft einmal zu dem Schluß kommen wird, es sei besser, billiger, ökologischer (perfekte Filteranlagen immer vorausgesetzt!), den ganzen Krempel wieder in eine Tonne zu werfen und in Bausch und Bogen in Wärmeenergie zu verwandeln, so würde uns das aufs äußerste schmerzen. Wir Grünen (egal, ob wir überhaupt noch grün wählen und wie wir im übrigen die Welt inzwischen betrachten) hängen auf eine stille, verbissene Art einer eigenartigen Ding-Religion an, die verlangt, daß aus einem Ding, aus einem Material nicht ein anderes werden darf. Flaschen müssen Flaschen bleiben, aus Papier muß wieder Papier werden, und in welche byzantinischen Verästelungen der Recycling-Gedanke bei Kunststoffen und bei seltener vorkommenden Materialien führt, muß hier nicht ausgeführt werden. Wir haben ja auch, dies am Rande, den antiimperialistischen Kampf (der wie bei unsereren Vorgängern immer vordringlich ein antiamerikanischer war) zum Beispiel durch Nichtessen geführt, nämlich von Grapefruits aus Südafrika. Fallweise dürfte sich der eine oder andere wohl auch dem „Antizionismus“ (auch so eine lagerübergreifende Gemeinsamkeit, die bei uns Grünen aber doch eine eher untergeordnete Rolle spielte) in Form des Nichtessens von israelischen Zitrusfrüchten hingegeben haben. Der Kinderarbeit wurden wir durch Nichtkaufen indischer Teppiche, der Unterernährung durch Nichtessen thailändischer Lychees Herr bzw. Frau. Daß unsere Vorstellungen zur Wirtschaftsordnung naiv waren (und weithin geblieben sind), ist uns noch am wenigsten anzulasten. Wir erwiesen uns auch darin als späte Erben der zeitweise erfolgreichsten utopischen Bewegung der letzten hundertfünfzig Jahre, deren Philosophen sich alles aufs genaueste überlegt haben, bis auf das eine: wie die ideale Gesellschaft mit realen Menschen in einer realen Welt zu entwickeln wäre und insbesondere nach welchen unüberschreitbaren Prinzipien das Wirtschaften in der Moderne funktioniert. Aber wer hätte uns das auch erklären sollen?
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