: Wenn „was dazwischenkommt“
Wie schwer ihre Verbrechen waren, lernen jugendliche Straftäter nicht durch eine lange Haft, sondern nur durch intensive Betreuung im Knast. In Neustrelitz gibts die nicht ■ Von Constanze v. Bullion
Es ist ein stilles Rendezvous. Eines von der ungemütlichen Sorte. In Zelle 116 läuft der Fernseher, und die unwirklichen Bilder des Boulevardmagazins spiegeln sich in einer seltsam leblosen, aber realen Welt. „Mörder gesucht“, flimmert es über die Mattscheibe. Eine adrette Moderatorin serviert Cocktails aus Kinderblut, Muttertränen und Jugendgewalt, warnt vor „halbstarken Kriminellen“ und dem „Täter in unserer Mitte“. Der Täter vor dem Fernseher rutscht von einer Pobacke auf die andere. Nicht, weil Sven selbst mal der Mörder im Vorabendprogramm war. Sondern weil er rauskommt. In 112 Tagen.
Nur weg hier will der schmächtige junge Mann, der mit unruhigen Augen die Decke absucht. Der nichts mehr sehen mag von den weißen Gittertüren, nicht mehr die säuerlichen Schwaden von Desinfektionsmittel riechen will, die durch die Justizvollzugsanstalt Neustrelitz kriechen. Der vor allem vergessen möchte, was ihn in Mecklenburg-Vorpommerns ältesten Jugendknast geführt hat. Fünf Jahre Selbstbesinnung hat er hinter sich, sein Fazit ist bescheiden: „Das muß man alles beiseite schieben, dann geht das schon.“
Beiseite zu schieben gibt es einiges. Sven hat 1993 ein Mädchen umgebracht. Weil seine Hunde regelmäßig über Nachbars Spitz herfielen, habe dessen Tochter sich beschwert, erzählt er. „Richtig frech“ sei die Achtjährige geworden, da hat er sie geschlagen, bis sie das Bewußtsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, hat Sven „noch mal zugedrückt, am Kehlkopf, da war sie tot“. Der damals 19jährige bekam acht Jahre Jugendhaft, fünf hat er abgebrummt, jetzt kommt er auf Bewährung frei.
Keine ungewöhnliche Entscheidung, Heranwachsende fallen fast durchweg unters Jugendstrafrecht und sitzen selten über fünf Jahre. Schließlich garantiert lange Haft keineswegs, daß hinterher, wie Sven es nennt, „nicht wieder was dazwischenkommt“. 80 Prozent junger Ex-Knackis werden rückfällig, und glaubt man dem Gedröhn der Wahlkämpfer, gehören die Übeltäter effektiver weggesperrt. Wer gibt schon zu, daß zur mühsamen Integration von „Intensivtätern“ nicht nur Geld fehlt, sondern oft auch die innere Bereitschaft, den Kreislauf von Verwahrlosung, Gewalt und Repression zu durchbrechen.
Wo Besserung ausbleibt, wird eingesperrt. Meterhohe Mauern und zwei Reihen Nato-Draht verhindern in Neustrelitz, daß das gesellschaftliche Gefahrengut abhanden kommt. Das marode Schloß am Ortsrand diente seit 1805 als „Zucht-, Irren- und Landarbeiterhaus“. In DDR-Zeiten wurden schwere Jungs mit Hunden und Wachtürmen in Schach gehalten, 1991 zogen jugendliche Häftlinge und neue Vollzugsregeln ein. Erziehung, nicht Strafe steht nun im Vordergrund – laut Gesetz.
180 Haftplätze für 245 jugendliche Täter
Tatsächlich teilen sich 245 Jungs zwischen 15 und 26 Jahren 180 Haftplätze. „Wenn das so weitergeht“, droht Anstaltsleiter Ralf- Gunter Nagler, „mache ich hier dicht.“ Daß er das nicht kann, weiß der Knastchef nur zu gut. Ein munterer Zeitgenosse ist dieser Herr aus Bremen, der in seinem Büro schon einen Neubau mit modernen Wohngruppen plant. Und glattredet, was nicht glattzukriegen ist. Keiner soll ohne Job rausgehen, es gibt 147 berufliche Qualifizierungsplätze, davon 35 Lehrstellen der Ruhrkohle AG. Fürs Seelenheil der Häftlinge sind zwei Psychologen und acht SozialarbeiterInnen zuständig, die Gefangenen „sollen lernen, Konflikte anders auszutragen als mit Gewalt“. Ein frommer Wunsch.
„Bereuen is nicht“, meint Daniel. „Bloß nicht von Psychologen zuquatschen lassen“, findet auch Enrico, er ist schließlich immer einverstanden mit Daniel. Denn der ist Gefangenensprecher und der Boß in Haus 1, wo um 11.30 Uhr „zum Mittagessen eingerückt“ wird. Hinter Gittertüren, muffigen Fluren und nochmal Gittern in einer wohnlichen Eßecke schieben fünf Jungs mit flächendeckenden Tattoos fünf Schnitzel in sich hinein. Im Erdgeschoß gibt es Einzelzellen, Plüschsessel mit Aquarium und als Dekoration Frauenleiber zwischen anderen Kuscheltieren.
Kaum einer fühlt sich zu Recht verurteilt
Wer hier Markenklamotten trägt, hat die Hosen an, Daniel besitzt zudem ein Keyboard. Er sei ein „lumpiger Autodieb“, erklärt der 22jährige kokett. Schließlich weiß jeder hier, daß er schon dreimal eingefahren ist: jedesmal nach Spritztouren mit geklauten Autos, einmal wegen Banküberfalls. Statt mit 180 Sachen durch Stralsund zu brettern, würde Daniel eigentlich lieber mit seiner Freundin zusammenwohnen. Doch was er täte, „wenn da ein Ferrari rumsteht mit Schlüssel drin“, weiß er nicht: „Wollen tu' ich's nicht.“
Klingt nicht besonders selbstsicher. Ganz anders, als wenn Daniel über seinen Zellennachbarn Enrico redet. Der ist neu und steht ganz unten in der Hackordnung. „Sag's doch, daß du einen zusammengehauen hast“, fordert der Boß ihn auf. Da erzählt Enrico stockend von dem Zellennachbarn, dem er mit Kollegen den Kiefer zertrümmert hat, „Lungenriß und so“. In den Arsch haben sie ihn gefickt, berichtigen die anderen. „Da habe ich nur zugeschaut“, widerspricht Enrico leise.
Sie schauen zu, stehen Schmiere oder hocken auf dem Beifahrersitz, wenn es kracht. Kaum einer hier fühlt sich zu Recht verurteilt, zumindest gibt es niemand zu. Reue zu zeigen, das hieße, sich „als Weichei zu outen“.
Wie Enrico, der losheulte, weil ihm alles wieder hochkam: die Sache mit dem Stiefvater, dem Heim und dem Job auf dem Jugendkutter in Sassnitz. Die breiten Pranken voller Arbeit hatte er, bis die ABM auslief. Nach etlichen „Mistsachen“ überfiel seine Clique einen Rentner und erschlug ihn mit einem Stein. Der 21jährige bekam neun Jahre, da wollte er „nur heim zur Oma“.
Das Lied vom vernachlässigten Stiefkind, vom Alkoholikersohn und der Heimodyssee singt hier übrigens keiner allzu laut. „Meine Eltern gehen beide arbeiten“, heißt es eher oder: „Wir haben ein Eigenheim.“ Daß die Welt hinter den coolen Sprüchen anders aussieht, ist in einer Dissertation nachzulesen, die an der Uni Greifswald entsteht. Anhand von Gefangenenakten stellte die Juristin Sabine Lang fest, daß zwei Drittel der Neustrelitzer Häftlinge aus kaputten Familien stammen. Etwa die Hälfte ist ohne Schulabschluß, geschätzte 40 Prozent saufen, seit sie Teenies sind, bei jedem Vierten reißt der Draht zu den Eltern ab.
Kein Wunder also, daß etliche es „ganz in Ordnung hier drinnen“ finden. Kesse Rotzlöffel sind die Jungs, die Schlag 16 Uhr in bekleckerten Malerhosen aus der Werkstatt kommen – und denen man schnell ansieht, wer tritt und wer getreten wird. „Fotze“, „Düsi“ oder „Tanzmaus“ heißen die Schwächsten, an denen höhere Semester den Notstand in Hose und Seele austoben. Düsis wohnen in kahlen Viererzellen, reden nicht gut oder brüsten sich mit erfundenen Straftaten. Wie Brandstifter, Vergewaltiger und Nazis hätten sie „nichts zu melden“, versichern die Kahlköpfe aus Haus 1 – bis auf einen Skinhead, „der fetzt“.
Fünf organisierte Neonazis meint man in Neustrelitz zu kennen, dabei gilt der Knast als rechte Hochburg. Sicher, heißt es beim Personal, die NPD bemühe sich um Jungwähler, man versuche „Post von verfassungsfeindlichen Organisationen zu stoppen“. Schließlich ist keine Nachhilfe von außen nötig, um hier den Geist von gestern zu verbreiten.
„Gott sei Dank“, meint ein Wärter, „haben wir nur einen Ausländer hier. Schon von der Mentalität her gäbe es sonst massive Probleme.“ Von afrikanischen Ganoven und russischer Mafia meint der muskelbepackte Beamte warnen zu müssen, der in den 40 zusätzlich aufgestellten Containerzellen nach dem Rechten sieht. Strikte Sauberkeit herrscht in dieser engen Welt aus Kunststoff und Stahl – und natürlich Disziplin. Wer ausschert, wird umgehend ausgesondert.
Wie der Jugendliche, der seit vier Wochen im Einzelarrest schmort, die Staatsanwaltschaft ermittelt „wegen Prostitution“. Der Junge habe sich gewisse Dienstleistungen mit Tabak entgelten lassen, er sei „offenbar homosexuell“. „Abartig“ findet das der Wärter, die Umsitzenden stimmen fröhlich ein. „Mit so einem will ich nix zu tun haben“, meint Jan, der wegen versuchten Totschlags sitzt. „Igitt, wie ne Ratte“, johlt Stefan, „so 'ne perverse Drecksau.“ Vom Vollzugsbeamten nichts als Nicken.
Wenn hier erzogen wird, dann autoritär
Seit 1979 tut dieser freundliche Familienvater in Neustrelitz Dienst, er gehört zu den 50 Prozent ehemaliger „Schließer“, die nach Wende und Crashkurs geblieben sind. Früher, erzählt der Beamte, habe man „die Sache in militärischer Art gesteuert“. Mit Gefangenen zu sprechen war unerwünscht, Trillerpfeife, Schlagstock und „Führungskette“ hatte er „immer am Mann“. Genervt habe „der Quatsch“, ihm liege eher der lockere Umgangston. Wer durchdrehe, werde heute „mit Handfesseln ans Bett geschlossen“ oder an einen Stuhl gebunden.
„Wenn hier Erziehung stattfindet, dann autoritäre“, beschreibt Lambert Rong den Geist den Hauses. Der Sozialpädagoge der Caritas Neustrelitz bietet seit 1996 „Aggressions-Integrations-Programm“ im Knast an. Und will nicht nur die gewalttätige Persönlichkeitsstruktur der Gefangenen aufbrechen, sondern auch die rigiden Denkmuster des Personals. „Hier werden Höflichkeitsformen trainiert, wie mit kleinen Kindern“, erzählt Rong, der auf „völliges Unverständnis“ stieß, als er freiwillige Beratung anbot. Nur unter Androhung von Urlaubssperre kamen zuletzt neun Kandidaten.
Auch Sven, der 1993 ein Mädchen umgebracht hat, ging zu dem Mann aus Aachen – um schneller rauszukommen. „Als Motivation reicht das aber nicht“, meint der Pädagoge. Immerhin ist der 24jährige dabeigeblieben. Monate dauert es oft, bis ein Häftling sich auf die Rollenspiele einläßt, bei denen er in die Haut des Opfers kriecht und lernt, was Mitleid ist. „Die sprechen nie über Gefühle“, weiß Rong, „selbst wenn die Freundin nicht mehr schreibt oder einer sich mit Gewissensbissen quält.“
Ganz langsam hat sich Sven auf das Minenfeld seiner Gefühlswelt vorgetastet. Hat beschrieben, wie sich seine Wutausbrüche anfühlen, „wo nur ein kleiner Funken kommen muß, dann steigt es in den Kopf“. Sven hat kapiert, daß zu Hause, wo der Vater Straßen reinigt und die Mutter Wohnungen, nicht alles so toll war, wie er immer vorgab. Und er hat gelobt, „keinen Scheiß mehr zu bauen“.
Der Rest ist Lotto. 18 Monate hat der Häftling nicht randaliert, jetzt kommt er raus. Dieser Knast kann ihm ohnehin kaum mehr bieten als Beschäftigung bei Tag und Verwahrung bei Nacht. Wo Disziplin das Maß aller Dinge bleibt, wo ein tolerantes Weltbild am Horizont und an den kargen Mitteln der Bewacher strandet, bleibt auch ein echter Sinneswandel der Bewachten auf der Strecke.
Wenn alles vorbei ist, will Sven auf Baumaschinenführer umschulen und mit Hilfe seiner Familie 54.000 Mark Schulden abtragen. Nur mit langfristiger psychologischer Begleitung wird er eine Chance haben, doch bezahlen will das bislang keiner. Sven wird zur Not auch alleine gehen. Und hoffen, daß „nicht wieder was dazwischenkommt“.
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