Die EU entdeckt die Migration

Weil alle bisherigen Programme für eine einheitliche Flüchtlingspolitik gescheitert sind, provoziert die EU-Präsidentschaft mit einem neuen Konzept  ■ Von Patrik Schwarz

Berlin (taz) – Plant die Europäische Union, die Genfer Flüchtlingskonvention auszuhebeln? Proteste von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und amnesty international sowie der Grünen und der PDS in den vergangenen Tagen legen den Eindruck nahe. Sie alle kritisierten einen Vorschlag der österreichischen EU- Präsidentschaft zur Reform der europäischen Migrationspolitik.

Doch so einhellig die Kritik, so wackelig war die Grundlage: In dem 134 Punkte umfassenden Strategiepapier findet sich zwar unter Punkt 103 der Hinweis, eine zeitgemäße Flüchtlingspolitik könne „nur auf der Basis einer Konvention erfolgen, die die Genfer Konvention ergänzt, ändert oder ablöst“. Aber in dem Dokument, das der taz vorliegt, ist die Überlegung eingebettet in ein umfassendes „Gesamtkonzept“ der EU für eine neue Migrationspolitik, das vor allem in zwei Punkten überrascht: In der Analyse durch unverblümte Selbstkritik und bei den Empfehlungen durch die Zielvorgabe, Migrationspolitik von einem Randthema der europäischen Politik zu einem Herzstück von EU-Entscheidungen zu machen.

Insbesondere bei „den Prioritäten der Finanzierungsprogramme und der Außenpolitik der Union“ sei eine „Koppelung“ mit der Migrationspolitik notwendig. Als Voraussetzung dafür empfiehlt das Papier eine „Organisationsreform“ auf EU-Ebene. So sollte in Zukunft in der EU-Kommission in Brüssel ein Kommissar speziell für Asyl- und Flüchtlingsfragen verantwortlich sein. „Daß ein solcher Funktionsträger dann ein klares Mandat braucht, umfassende Migrationspolitik zu machen, versteht sich von selbst“, heißt es in dem Dokument, das derzeit auch der Bundesregierung zur Stellungnahme vorliegt.

In ungewöhnlich deutlichen Worten erklären die Autoren, alle bisherigen Versuche der EU, zu einer gemeinsamen Migrationspolitik zu finden, seien gescheitert. Sie sprechen von einer „zweifellos feststellbaren Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ und schreiben über entsprechende Beschlüsse des Gipfels der europäischen Regierungschefs in Edinburgh 1992: „Die konkreten Absichtserklärungen wurden kaum umgesetzt, die generellen wurden nicht in klare Programme und Aktionspläne gegossen.“

In diesem Kontext wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 den heutigen politischen Verhältnissen noch entspricht. So liegt die Betonung in der Konvention vor allem auf dem Schutz vor Verfolgung durch staatliche Institutionen. Angesichts etwa des „Bosnienkonflikts, der großen Migrationskatastrophe der neunziger Jahre“, heißt es in dem EU-Papier, müßten „wohl neben den klassischen Asylgründen der GFK (...) auch interethnische Konflikte, nichtstaatliche Verfolgung und andere massenhafte Existenzbedrohungen in Betracht“ gezogen werden.